"Memorial. Erinnern ist Widerstand"

Der Sowjetmensch ist nicht frei geworden

07:27 Minuten
Buchcover: Memorial. Erinnern ist Widerstand
© Buchcover: Memorial. Erinnern ist Widerstand
Memorial. Erinnern ist WiderstandBeck, München 2025

192 Seiten

25,00 Euro

Von Henry Bernhard |
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Die Menschenrechtsorganisation Memorial setzt sich für eine Aufarbeitung der Verbrechen der ehemaligen Sowjetunion ein. Mitgründerin Irina Scherbakowa untersucht in einem Sammelband wie die unverarbeiteten Geschichte den Putinismus gedeihen ließ.
Winston Smith, der Held aus George Orwells Dystopie „1984“, arbeitet im „Ministerium für Wahrheit“. Dort muss er die Vergangenheit immer wieder an die jeweilige Gegenwart anpassen. Ähnliches geschieht heute in Russland. Um den Kriegsterror gegen die Ukraine zu rechtfertigen und auch die massive Unterdrückung jeder Opposition, wird die Geschichte der Sowjetunion fortwährend umgedeutet und in Propagandasendungen und Schulbüchern verbreitet. Irina Scherbakowa, Herausgeberin des Bandes "Memorial“, schreibt in ihrem Text:


Wer den Putinismus erforschen will, muss sich mit der Frage befassen, warum diese Ideologie immerzu in die Vergangenheit blickt. Eine Perspektive für die Zukunft ist in ihm nicht vorgesehen; sie besteht in der Vorstellung der Putin-Ideologen schlicht in der Rückkehr zur Vergangenheit, und der Überfall auf die Ukraine ist ein Krieg um diese Vergangenheit.

Suche nach Beweisen gegen Staatsverbrechen

Das Buch heißt im Untertitel „Erinnern ist Widerstand“ – und weist damit ins Zentrum der russischen Bürgerrechtsbewegung: Die Suche nach den Zeugnissen der Vergangenheit sind, genau wie die nach Beweisen für heutige Staatsverbrechen, zu einem Akt des Widerstands geworden. Weil die Wahrheit die Lügengebäude und damit auch die Macht des Diktators gefährdet. Davon ist der Historiker Karl Schlögel, einer der Autoren des Bandes, überzeugt:


Ich bin sicher, dass es selbst die Allmacht eines totalitären Staates übersteigt, auf Dauer eine verordnete Geschichte aufrecht zu erhalten. Letztlich arbeitet die Zeit gegen dieses Regime, und das ist nicht ein Happy End herbeizureden, sondern das ist die Gewissheit, dass die Aktion selbst, die Tat, die das Regime vollbringt, diese ganzen mythologischen Erklärungen der Putin-Propaganda widerlegt.

Schlögel ist mit großer Emphase optimistisch - vielleicht braucht es diese Gesten in Zeiten der Finsternis:
"Der Schock der Gegenwart zerbricht die Routinen und die Formelhaftigkeit offiziöser Sprachregelungen und richtet neue Fragen an die Vergangenheit. Es geht dabei aber nicht allein um die Bergung der totalitären russisch-sowjetischen Erfahrung, sondern um die Vergegenwärtigung eines wahrhaft europäischen Gedächtnisraums, der bis auf den heutigen Tag allzu westzentriert ist und die Generationenerfahrung der Völker im sowjetisch-russischen Raum vernachlässigt, wenn nicht gänzlich ignoriert hat."

Irina Scherbakowa lebt im deutschen Exil

Das Autorenverzeichnis von „Memorial“ liest sich wie ein Who is Who der Kommunismusforschung, der Russland-Kenner, der ehemaligen und aktuellen Dissidenz in Osteuropa. Herta Müller, Nicolas Wert, Anne Applebaum, Gerd Koenen, Adam Michnik, Swetlana Alexijewitsch … – sie alle tauchen mit Beiträgen auf.
Die Herausgeberin Irina Scherbakowa lebt seit Russlands Vollinvasion der Ukraine 2022 im deutschen Exil. Sie betont die Relevanz des Buches für das Selbstverständnis der Menschenrechtsorganisation Memorial International:
"Weil wir uns die Frage gestellt haben, also nach der Liquidierung von Memorial, nach dem Beginn des Krieges: Was machen wir nun, was machen wir nun mit unserer Arbeit? Hat es überhaupt einen Sinn? Und welche Rolle spielt also diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit."
Memorial lebt: Das Buch ist ein vibrierender Beweis. Es ist eine Selbstvergewisserung, eine Ermutigung von innen und außen, eine Standortbestimmung. Und es ist das Pfeifen im Walde, das Mut macht in finsteren Zeiten. Denn der Zustand der Lethargie der meisten Russen dauere – mit kurzen, schwachen Unterbrechungen – seit über 100 Jahren an. So heißt es in der ebenfalls abgedruckten Nobelpreisrede von Memorial:

Siebzig Jahre hat der Staat jegliche Solidarität unter den Menschen zerstört, er hat die Gesellschaft atomisiert, jede Erscheinung bürgerlicher Solidarität ausgerottet und die Menschen zu einer gehorsamen und stimmlosen ‚Bevölkerungsmasse‘ gemacht. Der heutige traurige Zustand der Zivilgesellschaft in Russland ist die unmittelbare Folge dieser nicht überwundenen Vergangenheit.

Und deswegen müsse Memorial sich immer um beides kümmern: Um die Aufdeckung der Vergangenheit und um die Menschrechtsverletzungen von heute. Herta Müllers Beitrag zum Buch möchte man in Gänze zitieren – so bezwingend ist ihre Sprache:
"Ich glaube, Putin ist ein sentimentaler Verbrecher, der durch Massenmord seine Jugendzeit zurückholen will. Und die Welt steht Kopf, weil er sich in den Kopf gesetzt hat, die Welt auf den Kopf zu stellen. In seinem Gesicht die Mischung aus Kampfhund und Roboter. Er sät, wo er Lust hat, den Tod. Auch in Russland selbst. Krieg garantiert Putin auch zu Hause Personenkult und grenzenlose Willkür. Was gibt es in Russland noch außer der totalen Entmündigung durch eine irre Propaganda? Deren Ziel ist die Verrohung der Gefühle bis hin zum Verlust jeglicher Humanität."

"Amnesie" gegenüber kommunistischer Gewalt

Hart gehen viele Autoren des Bandes den, so Anne Applebaum, „notorischen westlichen Defätismus“ an, „der die tönende Siegesgewissheit des Kreml-Führers eins zu eins für reale Stärke hält“. Der Kommunismus-Forscher Nicolas Werth beklagt eine „Amnesie“ gegenüber der kommunistischen Gewalt, die im Gegensatz zur faschistischen verharmlost werde. Was daraus folgte, beschreibt die belarussische Autorin und Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch:

Der Sowjetmensch ist nicht frei geworden, obwohl er Furchtbares durchlitten hat. Nachdem er durch halb Europa gezogen war, ging er zurück in den Stall und wohnte dann darin.

Die Autoren ordnen wie in einem Puzzle den russischen Krieg gegen die Ukraine, den Terror in Russland, in Belarus gegen das eigene Volk in eine historische und eine europäische Perspektive ein. Sprachgewaltig, mitunter sarkastisch und unbedingt lesenswert.
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