Memoiren eines Kanzlers

Rezensiert von Gerd Langguth |
Helmut Kohl hat Zeit seines aktiven Politikerlebens im vertrauten Kreise diejenigen Politiker verspottet, die sich durch ihre Memoiren abzuarbeiten pflegen. Heute verstößt er gegen sein eigenes, mit moralischem Pathos vorgetragenes Verdikt. Vor wenigen Tagen erschien der zweite Band seiner Memoiren. Warum hat Kohl es sich anders überlegt?
"Angesichts der gigantischen Verleumdungskampagne und Geschichtsfälschung, die dann gegen mich auf den Weg gebracht wurden, habe ich aber beschlossen, meine Erfahrungen weiterzugeben. Dies war auch der Wunsch meiner Frau, die mich dazu noch in ihrem Abschiedsbrief aufgefordert hat, "

sagte Helmut Kohl schon im November 2002. Er überwand seinen Spott über die Memoirenschreiber nicht nur deshalb, weil die finanzielle Verlockung hoch ist. Sein altes Lebensmotiv – der Kampf gegen die "Verfälscher", die er vor allem in Verlagen in Hamburg sitzen sieht - lebt hier altersstarrsinnig wieder auf. Vor allem will er aber sein Bild in der Geschichte selber zeichnen. Schon frühzeitig hat er durch intensive Förderung – übrigens verdienstvoller - wissenschaftlicher Werke zur deutschen Einheit seine Deutungshoheit festzuzurren versucht, deren Autoren privilegierterweise sonst jahrzehntelanger Sperrfrist unterliegende Archivmaterialien einsehen konnten.

Es ist schwer, sich durch dieses dicke Konvolut durchzuarbeiten, das an einigen Stellen, jedenfalls hinsichtlich des Prozesses der deutschen Einheit sogar spannend zu lesen ist - aber es ist immer zugleich eine sehr, sehr subjektive Betrachtungsweise. Man merkt: Das deutsche Wort "Erinnerungen" lässt die Differenz zu den tatsächlichen Geschehnissen eher aufleuchten als seine französische Übersetzung "Memoiren". So wird die Geschichte nicht im Sinne einer Fotografie abgebildet, sondern im Sinne eines Gemäldes geschönt. Wir lesen in diesem Buch die sehr subjektive Wahrheit des Alt-Kanzlers – und wir, die wir ihn in 16 Jahren Kanzlerschaft und 25 Jahren Parteivorsitz der CDU erlebt und begleitet haben, finden hier alle Stereotypen wieder, an die wir uns lange Jahre zu gewöhnen hatten. Dazu gehören solche, von seiner Mutter übernommenen Sätze wie:

"Die Hand, die segnet, wird zuerst gebissen. "

Er schlussfolgert daraus, dass er, der viele in ihrer Karriere befördert hat, in schwierigen Zeiten der dann von ihnen Gebissene war. Fast mit Wollust langt er in seiner Abrechnung bei dem früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zu, dem er vorwirft, den deutschlandpolitischen Verlockungen der SED erlegen zu sein. Aber auch Norbert Blüm, der einzige Minister, den er in allen seinen Kabinetten zum Arbeits- und Sozialminister berufen hatte, bekommt sein Fett weg. Ausführlich und genüsslich schildert er die Nicht- Wiederberufung seines früheren Generalsekretärs Heiner Geißler, der ihn – Kohl im Jahre 1989 – stürzen wollte. Er berichtet, wie er frühzeitig von Geißlers Putschbemühungen von den verschiedensten Quellen hörte und lobt sich dabei selbst:

"Je weiter Geißler herumreiste, umso mehr Rückmeldungen von Bundestagsabgeordneten, aber auch von Kreis- und Bezirksvorsitzenden der Partei bekam ich. Hier zahlte sich mal wieder der Kontakt zur Basis, zur mittleren und oberen Ebene der Partei aus, den ich damals wie heute in besonderer Weise pflegte. "

Selten hat sich ein Spitzenpolitiker zu seinem eigenen Spitzelsystem so bekannt, wie Kohl es hier offen tut.

Von seinem damaligen engen Mitarbeiter Eduard Ackermann erhielt er auch Informationen, was Bonner Journalisten über Heiner Geißlers Aktivitäten berichteten.

"So wussten wir sehr genau, wer von den Spitzenpolitikern der CDU zum Kreis der Umstürzler zählte und wer welche Rolle dabei spielte, allen voran Lothar Späth, der mich als Kanzler beerben wollte und sollte. Rita Süssmuth teilte mir ihre Loyalitätsbekundungen auch gerne schriftlich mit, gleichzeitig arbeitete sie jedoch hinter meinem Rücken an meinem Sturz. Ähnlich verhielten sich der Schatzmeister Walther Leisler Kiep, Kurt Biedenkopf und Norbert Blüm. Dieser schlug sich erst in letzter Sekunde, vor dem Bremer Parteitag, in die Büsche, als die Erfolgsaussichten für den Coup schwanden. Von diesem Zeitpunkt an war mein Vertrauen zu Blüm erheblich beschädigt. Heute weiß ich, dass es politisch wie persönlich ein schwerer Fehler war, an ihm als Sozialminister festzuhalten. Im Licht der Ereignisse frage ich mich heute, wie ich mich so in seinem Charakter täuschen konnte. "

Wer hat sich hier in wessen Charakter getäuscht? Bei der Lektüre fragt man sich: Wieso ist Kohl die einzige, nur von zunächst unerkannten Schurken umgebene Lichtgestalt? Denn ein Rätsel wird beim Lesen größer als vorher: Wie konnte es kommen, dass führende Köpfe der deutschen Politik sich von Kohl abwandten und gegen ihn stellten? Der intelligente Leser wird aber die Gegenfrage stellen, ob es nicht auch an Kohl selber lag, dass sich so unterschiedliche Persönlichkeiten unisono von ihm abwandten.

In dieser Zeit war die Partei durch miserable Landtagswahlergebnisse in einer schwierigen Situation. Doch dann kam Helmut Kohl die Geschichte zu Hilfe, bevor der Bundesparteitag der CDU am 10. September 1989 in Bremen zusammentrat. Der ungarische Botschafter in Bonn hatte zuvor signalisiert, dass die Tausenden von Ostdeutschen, die sich in jenen Tagen in Ungarn aufhielten, aber nicht in die DDR zurückkehren wollten, nach der Entscheidung der damaligen ungarischen Regierung in ein Land ihrer Wahl ausreisen konnten.

"Das zeitliche Zusammentreffen dieses Ereignisses mit dem Bremer Parteitag war weder geplant noch beabsichtigt, aber natürlich kam es mir bei der Abwehr des Angriffs der Gruppe um Geißler, Späth und Süssmuth sehr gelegen. "

Kohl sorgte dafür, dass diese sensationelle Nachricht während des traditionellen Presseabends in der Bremer Stadthalle am Vortag des CDU-Parteitages bekannt wurde. In den Tagen danach passierten mehr als 6.000 Menschen die Grenze in Richtung Freiheit. Der ungarische Ministerpräsident Miklós Néhmet hatte einige Zeit vorher in einer geheimen Begegnung mit Helmut Kohl erklärt:

"Eine Abschiebung der Flüchtlinge zurück in die DDR kommt nicht in Frage. Wir öffnen die Grenze. Wenn uns keine militärische oder politische Kraft von außen zu einem anderen Verhalten zwingt, werden wir die Grenze für DDR-Bürger geöffnet halten. "

Helmut Kohl sagte bezüglich dieses Augenblicks:

"Mir stiegen die Tränen in die Augen, als Néhmet dies ausgesprochen hatte. In diesem Moment wurde mir deutlicher denn je bewusst, wie wichtig und richtig es gewesen war, dass wir all die Jahre an der einen deutschen Staatsbürgerschaft festgehalten hatten, dass wir nicht den Forderungen aus Ost-Berlin und der SPD-Opposition, der Grünen und weite Teile der Medien, die sich mit der Teilung unseres Landes längst arrangiert hatten, gefolgt waren, eine eigene DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen. "

Zweifellos – das wird in diesem Buch zu Recht deutlich - wurde der erste Stein der Mauer nicht in Berlin heraus gebrochen, sondern durch die denkwürdige Entscheidung der damaligen ungarischen Regierung.

Der Einheits-Vorkämpfer Helmut Kohl hatte in seinen Memoiren sogar für die Anfangszeit seiner Kanzlerschaft zuerkennen gegeben, dass auch die von ihm geführte Regierung bezüglich der Deutschlandpolitik konzeptionslos war:

"Offen gesagt: In der Deutschlandpolitik verfügten wir damals nicht über eine konkrete und langfristig angelegte politische Konzeption. Entscheidend war, dass die deutsche Frage historisch wie völkerrechtlich und politisch offen blieb. "

Die Maueröffnung überraschte Kohl während eines Staatsbesuchs in Polen. Zu Beginn dieser Visite hatte ihn noch Lech Walensa aufgefordert, er müsse konkrete Vorbereitungen für den Fall des Falles der Mauer treffen – was dieser zunächst als "irreale Phantasien" abtat, wie sich Teilnehmer erinnern. Deshalb musste er seinen Staatsbesuch in Polen unterbrechen.

Nach der Maueröffnung war zunächst wochenlang eine klare Strategie Kohl nicht erkennbar. Die Bundesregierung schien ohne tragendes Konzept zu sein, wie beispielsweise auf den Massenansturm der Ostdeutschen nach Westdeutschland begegnet werden sollte. Nach diesen Wochen der Unsicherheit kam es zum berühmten, gleichwohl nicht mit Genscher abgestimmten "Zehn-Punkte-Programm der deutschen Einheit". Kohl berichtet intensiv, wie er am Wochenende des 25. und 26. November 1989 den für ihn von Mitarbeitern entworfenen Text am heimischen Schreibtisch in Oggersheim überarbeitete.

"Vor allem die Kernpassagen zur Konföderation und Föderation formulierte ich zum großen Teil neu. Hannelore gab mir dabei nicht nur manche wertvolle Anregungen, sie schrieb die von mir verfassten Textstellen auch auf ihrer Reiseschreibmaschine ab. "

Sicher hat Kohl das Verdienst, seitdem die Gunst der Stunde erkannt und genutzt zu haben. Sein Beziehungsgeflecht zu Gorbatschow kam ihm dabei zugute. Leider gibt es aber nur spärliche Hinweise auf die Gründe der Skepsis von Kohls Männerfreund Mitterand gegenüber der deutschen Einheit. Der Franzose hatte ja demonstrativ noch nach dem Mauerfall der DRR seine Aufwartung gemacht. Die Passagen zu Margret Thatcher sind hingegen bemerkenswert. Er berichtet über eine angebliche "zornige Feststellung" Thatchers, die er nie vergessen werde:

"Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen! Jetzt sind sie wieder da! "

Ob sie das tatsächlich nicht nur gedacht, sondern auch wörtlich so gesagt hat? Der Rezensent bezweifelt dies. Kohl zitiert hier Thatcher wörtlich, nicht darauf hinweisend, ob es sich um seine Erinnerungen handelt, oder um ein Wortprotokoll aus Anlass des Straßburger EU-Gipfels am 8. und 9. Dezember 1989.

Es handelt sich hier um ein wichtiges Buch, weil es vieles vom wirklichen und dem machtzentrierten Denken des zeitweilig mächtigsten Deutschen preisgibt. Kohl weiß sich in diesem Band in Szene zu setzen – und mit Interesse werden die geschätzten Leserinnen und Leser auf den Band 3 zu warten haben, auf denjenigen Zeitraum, der seinen politischen Niedergang beschreibt, seine desaströse Wahlniederlage im Jahr 1998, nicht zu vergessen Ende 1999 die Spendenenthüllungen, mit der er die CDU in die größte Krise ihrer Geschichte führte. Doch der vorliegende Band endet mit den emotionalen Worten:

"Ein großer Traum ging in Erfüllung: Nach vier Jahrzehnten Trennung war Deutschland wieder vereint. "

Helmut Kohl: Erinnerungen 1982-1990
Droemer-Verlag, München 2005