Melilla, der Zaun und die Mauer

Von Gunter Hofmann · 25.10.2005
Als 1989 der Drahtverhau zwischen Ost- und Westeuropa durchschnitten und die Mauer eingerissen wurde, fragte ein amerikanischer Freund: "Wie lange wird es dauern, bis ihr eine Mauer baut?" Mich verblüffte er damit, aber - es war hellsichtig. Ja, die Mauer stand auch für uns.
Sie schützte, wie der ukrainische Schriftsteller Andruchowytsch spottete, vor den "Barbaren". Und bunkern sich nicht wieder, in seinen Worten, die Vertreter der "glücklichen Länder" vor den Vertretern der "unglücklichen Länder" ein? Mit Sicherheit war es nicht das letzte Flüchtlingsdrama, diesmal mit mehreren Toten, an meterhohen Stacheldrahtzäunen zerrissenen und blutig verletzten Afrikanern aus dem Senegal, der Elfenbeinküste, Ghana oder Nigeria, das man zum Anlass nehmen muss, um über das Wort des Berliner Bischofs Wolfgang Huber nachzudenken: "Wir wollen Europa eine Seele geben, aber in Ceuta und Melilla hat Europa ein Stück seiner Seele verloren". Huber spielte damit an auf den Ansturm von jeweils Hunderten von Afrikanern auf die spanischen Enklaven in Marokko, auf den erträumten europäischen Himmel jenseits des Stacheldrahts. Aus Afrika, kein Zweifel, kommt der größte Druck auf Europa. Derzeit, wird geschätzt, sind 18 Millionen Afrikaner auf dem langen Marsch nach Norden, meist nicht auf Glückssuche, sondern auf Überlebenssuche.

Überraschend können diese Vorboten einer Völkerwanderung, die auch uns erfasst, nicht wirklich sein. In den 70er und 80er Jahren war man beim Nachdenken darüber weiter, was passieren würde, wenn wir passiv bleiben. Wir blieben passiv – und egoistisch. Worauf ich aber an dieser Stelle hinaus möchte, ist nicht nur der Ansturm aus dem Süden. Nach der Zäsur von 1989 fingen die Europäer sehr bald an, sich vor dem Osten abzuschotten. Gerade mit deutscher Hilfe wurden an den Außengrenzen von Schengen, konkret heißt das, an der Ostgrenze Polens, die das Nachbarland von der Ukraine und Weißrussland trennt, neue elektronisch kontrollierte, immer perfektere Sperrzäune errichtet. Ein paar Jahre konnten Polens Nachbarn die versprochene Reisefreiheit – nach dem Ende der Systeme, die die Welt teilten – nutzen, indem ihnen großzügig Visa gewährt wurden. Der Skandal hinter dem so genannten "Visa-Skandal" war in Wahrheit, dass mit dieser Großzügigkeit insgeheim endgültig Schluss gemacht werden sollte. So geschehen! Es folgten verzerrende Berichte über die polnischen Klempner und Metzger, die angeblich als Billiglöhner den Arbeitsmarkt überschwemmten. Wieder ein anderes Motiv lag der neuen Debatte über die Türkei zugrunde.

Es hieß, mit dem Nein zur Verfassung wollten Franzosen und Holländer, ja sämtliche EU-Glücklichen, den Islam aus Europa heraushalten. Viel junge Türkinnen und Türken reagierten – nach so langen Jahren westlicher Integrationsversprechen auch da! – konsterniert. Über Nacht avancierte das Buch eines jungen Türken zum Bestseller bei ihnen, in dem der Westen von der Türkei mit Atombomben attackiert wird ... Ob es also um Flüchtlinge, um Arbeitssuchende, um andersgläubige Nachbarn geht, immer erweckt Europa den Eindruck, es wehre ab. Chiffre dafür: Die Zäune in Ceuta, die von drei Meter auf sechs Meter hochgezogen werden. Es geht mir nicht darum, blauäugig zu empfehlen, das dichtbesiedelte Europa könne Zufluchtsort für die halbe Welt sein. Aber man kann sich nicht mit Mauern vor Fakten schützen: Das Durchschnittsalter in den Herkunftsländern der Anstürmenden liegt unter 20 Jahren, das der Europäer über 40, die Bevölkerungszahl in den Südländern wächst dort rasant, hier sinkt sie dramatisch. Kann man sich dagegen nur "einbunkern"? In rassistischen und imperialistischen Kriegen haben die Europäer sich niedergemetzelt und ihre Seele verloren, ja. Sie zu retten, kann nur bedeuten, dass es ein offener Kontinent bleibt. Europa muss sich – gar nicht so unähnlich zu Amerika in den letzten Jahrhunderten – als Nation von Nationen verstehen lernen. Als ein Dach, unter dem viele Ethnien, Kulturen, Religionen Platz haben, auch wenn das – darin gleichfalls wie in den USA – zwangsläufig zu bitteren, bekanntlich gleichfalls blutigen Konflikten führte. Seele klingt nach Predigt und Moral. Gemeint ist jedoch Politik im eigenen Interesse: Nach innen muss Europa sich daran erinnern, schon einmal ein Kontinent der Migration gewesen zu sein, des großen Völkergemischs, der unterschiedlichen Kulturen, und was davon unter den Bedingungen der globalisierten Moderne neu nutzbar zu machen ist. Und nach außen muss es sich endlich darauf besinnen, in Afrika, in Osteuropa für fairen Ausgleich, zumal im Handel oder am Arbeitsmarkt, zu sorgen, die islamische Welt aber nicht nur in der Paulskirche mit dem Friedenspreis für Orhan Pamuk sonntäglich zu lobpreisen, sondern alltäglich als unsere Nachbarn zu begreifen. Aus dem europäischen Imperialismus nach außen würde sonst einer nach innen gewendet, ein negativer Imperialismus.

Gunter Hofmann, Journalist und Autor, Jahrgang 1942, Dr. phil., seit 1977 bei der Wochenzeitung Die ZEIT, seit 1994 Büroleiter in Bonn, seit dem Regierungsumzug in Berlin, einer der angesehensten Beobachter des deutschen Politikbetriebs, jüngste Buchveröffentlichung: Abschiede, Anfänge. Die Bundesrepublik. Eine Anatomie.