Melanie Raabe: "Der Schatten"

Im Modus des Verdachts

Ein Bild des Riesenrads im Wiener Prater, im Vordergrund das Buchcover von Melanie Raabe: "Der Schatten"
Die Protagonistin des Romans will in Wien ein neues Leben beginnen - doch die Vergangenheit holt sie ein. © Willfried Gredler-Oxenbauer, Cover btb
Von Kolja Mensing · 17.08.2018
Melanie Raabe gilt als Shooting Star unter den deutschsprachigen Krimi-Autoren. Jetzt ist ihr dritter Roman erschienen: "Der Schatten" ist ein wasserdicht konstruierter Psycho-Thriller.
Nora ist Mitte dreißig und hat schon oft neu angefangen. Diesmal hat es sie nach Wien verschlagen. Hinter ihr liegen eine gescheiterte Beziehung, einige harte Jahre als Reporterin in Berlin und das, was sie in ihrem Kopf nur "die Katastrophe" nennt. Die Wiener Wohnung ist noch leer, die Umzugskartons nicht ausgepackt. Nora fühlt sich frei. Bis sie auf der Straße von einer Bettlerin angesprochen wird: "Am 11. Februar wirst du am Prater einen Mann namens Arthur Grimm töten", sagt sie . Und kurz darauf ist alles wieder da, was Nora eigentlich vergessen wollte.

Netz aus unheimlichen Andeutungen

"Der Schatten" heißt der neue Thriller von Melanie Raabe, und genau wie in ihrem gefeierten Debüt "Die Falle" (2015) und dem Nachfolger "Die Wahrheit" (2016) gelingt es ihr gleich auf den ersten Seiten mit einem einzigen Einfall – diesmal: der zunächst unverständlichen Prophezeiung einer Fremden - eine Art Kickstart hinzulegen, um dann ein feines Netz aus unheimlichen Andeutungen zu spinnen: Gute Bekannte wenden sich von Nora ab, unangenehme Nachrichten über ihren Exfreund treffen ein. Vor allem aber trifft sie in Wien immer wieder auf den Namen "Arthur Grimm" - und sie lernt eine Nachbarin kennen, die auffällige Ähnlichkeiten mit ihrer Jugendfreundin Valerie hat, die vor vielen Jahren Suizid begangen hat. Oder war es damals ein Mord? Und könnten Valerie und jener geheimnisvolle Arthur Grimm sich wirklich gekannt haben, wie es eine anonyme SMS nahelegt, die Nora in Wien erreicht?

Beunruhigende Grundstimmung

Melanie Raabe erzeugt in "Der Schatten" mit verhältnismäßig einfachen Mitteln eine beunruhigende Grundstimmung, die nach und nach den ganzen Text infiziert. Denn nicht nur die Protagonistin befindet sich dauerhaft im Modus des "Verdachts". Auch auf der Seite des Lesers macht sich Misstrauen breit: Was genau verbirgt sich hinter der "Katastrophe", die Nora in Berlin ereignet hat? Warum wirft ihr eine Freundin "mangelnde Impulskontrolle" vor? Und lag sie richtig, als sie bei ihrer letzten Recherche einen prominenten Künstler als Mann denunziert hat, der Frauen zu "Musen" erklärt, um sie anschließend zu "vernichten"?

Wer ist Opfer, wer ist Täter?

"Der Schatten" ist darum nicht einfach nur ein wasserdicht konstruierter Psychothriller. Man kann ihn auch als Reflex auf die #metoo-Debatte lesen und die dazugehörigen medialen Ermittlungen, die gelegentlich an einen – eher schlechten! – Krimi erinnerten. Melanie Raabe erinnert uns daran, dass es in komplexen gesellschaftlichen Konflikten nicht um die "Wahrheit" geht und um die eindeutige Bestimmung von "Opfern" und "Tätern", sondern um das Abwägen von Handlungsoptionen. Und die können riskant sein. Nora bekommt eine erste Ahnung davon, als sie auf dem Küchentisch in ihrer Wohnung einen geladenen Revolver findet.

Melanie Raabe: "Der Schatten"
btb, München 2018, 416 Seiten