Melancholische Reiseskizzen

Rezensiert von Jörg Plath · 16.08.2005
Sieben Jahre ist der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk durch Mitteleuropa gereist, hat einsame Dörfer und Landstriche aufgesucht, um dem melancholischen Zauber des alten Osteuropa nachzuspüren. Seine Reiseskizzen widmen sich dem Nichtigen und Übersehenen, der Apathie und Armut, der Trägheit und Tierverbundenheit auf dem Land und in den Dörfern.
Gönc, Zborov, Caraorman, Erind, Spišská Belá, Oradea, Dulabka oder Babadag sind auf den wenigsten Landkarten verzeichnet. Wozu auch. Niemand sucht diese Dörfer zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. Nur Andrzej Stasiuk hat sie aufgesucht und den Provisorien des Erdendaseins in "Unterwegs nach Babadag" ein Erinnerungsdenkmal gesetzt:

"Ja, es lässt sich nicht leugnen, dass mich der Schwund, der Zerfall interessiert, alles, was nicht so ist, wie es sein könnte oder sein soll. Alles was auf halbem Weg stehen geblieben ist und keine Kraft, keine Lust oder keine Idee mehr hat, alles, was man eingestellt, aufgegeben und sich abgeschminkt hat, alles, was nicht überlebt, keine Spuren hinterlässt, was nur um seiner selbst willen besteht und keine Wehmut, Trauer oder Erinnerung weckt. Vollendete Gegenwart. Geschichten, die nur so lange dauern, wie sie erzählt werden. Dinge, die nur existieren, wenn jemand sie betrachtet."

Dieser jemand ist Andrzej Stasiuk, der bekannteste und wohl auch seltsamste polnische Schriftsteller. Von ihm liegen äußerst unterschiedliche Bücher vor: harte, autobiografische Prosa über Sex, Drugs and Rock & Roll und Gefängnis ebenso wie zarte, metaphysische Landschaftsbeschreibungen ("Dukla").

Nun ist Stasiuk sieben Jahre lang durch Mitteleuropa gereist. 167 Stempel zieren seinen Pass, heißt es in "Unterwegs nach Babadag". Es müssten eigentlich mehr als 200 sein, aber die Grenzbeamten sind oft faul und schlampig, typische Bewohner des "slawischen Chaos" also. In beeindruckender Detailfülle widmen sich Stasiuks dreizehn Reiseskizzen und das titelgebende längere Stück dem Nichtigen und Übersehenen, der Apathie und Armut, der Trägheit und Tierverbundenheit auf dem Land und in den Dörfern.

Mit großer poetischer Kraft beschwört Stasiuk zahllose Augenblicke herauf und widersteht der Versuchung, aus Alltagsszenen Geschichten, aus kurzen Begegnungen Metaphern, aus Landschaftsbeschreibungen Allegorien entstehen zu lassen. Das Wetter spielt eine große Rolle in den Reiseskizzen, ebenso die anderen Indizien des Wechselnden, das sich immer gleich bleibt, weil es ständig wiederkehrt: die Gerüche, der Alkohol, die Ebene, die Berge.

Immer wieder räsoniert Stasiuk über Zeit und Raum. Mitteleuropa ist Raum, es erscheint ihm als "ewige Gegenwart". Das Paradies ist also nahe. Es ist zwar schäbig, jedoch greifbar.

Andrzej Stasiuk ist ein schwarzer Romantiker. Er sehnt sich nach dem Konkreten, um die Angst vor der Unendlichkeit zu besiegen. Er verschreibt sich dem Untergang, um Teil zu haben an der Unsterblichkeit, die in dem ewigen Verfall liegt. Er wünscht sich Mitteleuropa als Reservat inmitten einer vom Geld beherrschten, betriebsamen Welt – und weiß, dass er von seinen Bewohnern für solche Gedanken gesteinigt werden würde. Aber dieser verzweifelte Liebende des mitteleuropäischen Zeitlochs ist kein Menschenfreund, sondern ein Freund der Vergänglichkeit.

Niemand wird die Orte besuchen wollen, über die Stasiuk schreibt. Doch jeder Mitteleuropareisende kennt die Atmosphäre, die er mit nicht nachlassender Intensität heraufbeschwört.

Das letzte und längste Stück des Buches liefert mit seinen reflektierenden Passagen die Überlegungen des Melancholikers nach, der in der Landschaft, "wo eines ohne Grund aus dem anderen hervorgeht und ohne Folgen für das Ganze", "die Freiheit, die Kindheit" wieder findet. Stasiuk singt dem alten, in Kakanien und dem Realsozialismus entstandenen Mitteleuropa das Totenlied. Die Europäische Union lockt.

Andrzej Stasiuk: Unterwegs nach Babadag
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Suhrkamp Verlag. 300 S., 22,80 Euro