Melancholisch getönte Erzählungen

22.09.2009
Lutz Seiler hat durch seine Gedichtbände Aufsehen erregt und zuletzt Essays veröffentlicht, die den Essay als eine verdichtete, hoch poetische Form ausweisen. Dass er sich nun der Prosa zuwendet, wurde in literarischen Kreisen aufmerksam verfolgt, schien er doch ein Dichter sui generis zu sein. Sein erster öffentlicher Auftritt mit Prosa wurde sogleich zu einem großen Ereignis für den Literaturbetrieb: für seine Erzählung "Turksib" erhielt er beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt den Hauptpreis.
Dadurch erhöhte sich die Fama um Seilers Prosa noch um ein Beträchtliches, und wenn nun ein Band mit 13 Erzählungen von ihm vorliegt, ist wohl die erste Frage, ob die anderen Texte dieselbe Atmosphäre wie "Turksib" haben: eine mythisch anmutende Eisenbahnfahrt in den entlegenen östlichen Regionen Kasachstans, das Fremd- und Einssein mit einem Heizer, das eine zeitlose literarische Urgewalt zu entfalten scheint.

"Turksib" bleibt in diesem Band in gewisser Weise tatsächlich eine Ausnahmeerscheinung. Östlich-zeitlose Züge der Gegenwart sind auf jeden Fall noch in der Titelerzählung "Die Zeitwaage" zu spüren, die am Schluss des Bandes steht und, mit deutlich autobiografischem Vorzeichen, die Zeit um 1989 in Berlin vor Augen führt: ein sehr suggestiver Ton, der die Geschehnisse wie in einem Traum beschwört, mündend in der Figur eines Proletariers, der für den Kellner in einem der typischen Szenecafés noch einmal die verschwindende Wucht jener Welten verkörpert.

Vor allem aber führen diese Erzählungen in die Kindheit und Jugend des Autors, der gelegentlich augenzwinkernd mit dem Erzähler zu verschmelzen scheint. Es ist die Welt der Gedichte, die Lutz Seiler berühmt gemacht haben: das thüringische Uranabbaugebiet um Gera, mit Dörfern, die für diese Industrie geschleift wurden, in denen Seiler aufgewachsen ist.

Die in viele Einzelstücke gegliederte Erzählung "Der Kapuzenkuss" handelt von Schulritualen und erster Liebe, doch getaucht ist dies in das längst verblasste graue Licht sozialistischen Alltags - ein Spiel mit deutscher romantischer, aber auch brutaler Tradition. Die "Schachtrilogie" führt das in ihrem Hauptteil, in der Beziehung zur Schachmeisterin mit dem Spitznamen "Gavroche", in die Studentenzeit über.

Seiler erweist sich in dieser Prosa als ein Autor, der sehr konzentriert schreibt, der in den Details, die er nennt, immer eine tiefere Dimension mitschwingen lässt. In fast allen Szenen liegt etwas Allegorisches, eine zeitlos anmutende Erfahrung. Die ersten beiden Erzählungen führen in einen bisher ungewohnten Raum: Es geht um die Geschichte einer Trennung, in der Manier einer klassischen Short-Story. Der etwas melancholisch getönte, genaue, rauhe Duktus von Seilers Prosa ist jedoch immer erkennbar.

Besprochen von Helmut Böttiger


Lutz Seiler: Die Zeitwaage
Erzählungen. Suhrkamp Verlag, 2009
287 Seiten, 19,80 Euro