Melancholiker und Seelenfischer

Von Jochen Stöckmann |
Der vor sieben Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommene Schriftsteller W. G. Sebald hat weltweit eine Faszination ausgelöst. Der Autor, der als Melancholiker und auch als Seelenfischer galt, wurde sogar für den Literaturnobelpreis gehandelt. Nun sind im Literaturmuseum der Moderne in Marbach rund 500 Exponate aus seinem Nachlass zu sehen.
Drei handschriftliche Manuskripte liegen im Marbacher Literarturmuseum hinter Glas, Blatt für Blatt sorgsam aufgeschichtet zu kleinen Monolithen: Das ist der Beginn einer ungewöhnlichen Ausstellung, mit der "Die Ausgewanderten", "Ringe des Saturn" und "Austerlitz", drei Romane von W. G. Sebald buchstäblich aufgeblättert werden. Denn im anschließenden Spiegelkabinett ergänzen, nein: umtanzen und umschwirren Lesefrüchte und Textmarkierungen, am Wegesrand aufgelesene Fundstücke und auf Trödelmärkten dem Vergessen entrissene anonyme Souvenirs das Werk eines Autors, der sich stets fragte:

W. G. Sebald: "Was ist denn nun der Wahrheits- und Authentizitätsgrad der Literatur, das ist ja ihre Legitimation letztendlich."

Damit meinte Sebald beileibe keinen nackten "Realismus". Das wird zuallererst deutlich bei diesem Panoramablick in den Nachlass eines sehr eigenen, aber eben auch exemplarischen Vertreters jener Generation, die in den Siebzigern ihre literarische Karriere unter dem Verdikt vom "Tod des Autors" startete. Und so stellt Kuratorin Heike Gfrereis erstmals einen Schriftsteller vor, der das Gewebe von Fiktionen und Fakten als "Wirklichkeit" im Sinne einer Partitur begriff, der dem Publikum seine Passion für andere Autoren wie etwa Jean Paul oder auch Kafka mitzuteilen verstand:

Heike Gfrereis: "Wie ein Interpret der Musik auch, der sagt: Ich habe meinen Mozart im Kopf, und ich mach das so ergreifend schön, dass ihr alle Mozart schön findet. Aber eben durch mich als Medium. Und diese andere Vorstellung des Autors, der nicht so sehr das Originalgenie sein will, sondern der Vermittler einer tiefen Erfahrung, die ist bei Sebald sehr prägend."

Zu den irisierenden Texten gesellen sich einige private Bilder, Sebald auf dem Fahrrad, zu Pferde oder auf einem Traktor. Dazu seine Brille, die kleine Digitalkamera als Utensilien eines Augenmenschen. Und Lesezeichen vom Gingkoblatt bis zur ausgerissenen Tapete. All das formiert sich zu Rorschachflecken, zu Vexierbilder. Zurück im fortlaufenden Text lesen sich bekannte Passagen nun wie Vorschläge, eine immer schneller sich wandelnde Welt neu zu betrachten. Im gläsernen Spiegellabyrinth von Marbach scheinen die Manuskriptblätter, übereinander auf gläsernen Regalen ausgelegt, im Raum zu schweben:

Heike Gfrereis: "Wer bei uns die Texte von Sebald liest, die in der obersten Ebene liegen, kann dahinter fast schon im selben Augenblick auch diesen ganzen Sog, diese ganzen Schichten erkennen, die Sebald inspiriert haben. Und damit überträgt sich das Verfahren, dass er zum Produzieren gebraucht hat, auch auf den Leser."

Energische Unterstreichungen signalisieren die Leidenschaft, ja Parteilichkeit des Lesers Sebald. Der aber als Autor seine eigene Meinung keinem aufdrängt, der ein Einzelgänger bleibt im Kampf der Literaturpäpste und Dichterfürsten um "Meinungsführerschaft":

Heike Gfrereis: "Weil er genau deutlich macht: ich bin keine Leitfigur, die euch jetzt sagt 'Ihr müsst euch so verhalten' oder 'ihr müsst den anklagen', und ich bin die Orientierungsfigur."

Auch Sebalds Bibliothek war nie ein geschlossenes Universum, seine Bücher zirkulierten bis zum Schluss, bis zu seinem Unfalltod 2001. Das Manuskript des Erstlings "Schwindel. Gefühle" bleibt verschollen. Und so begriff dieser Autor jenes "kollektive Gedächtnis", von dem meist so falsch wie formelhaft die Rede ist, als einen Prozess, einen stetigen Fluss des Schreibens, vor allem aber des Zuhörens.

W. G. Sebald: "Es ist glaube ich unmöglich, aus dem leeren Kopf heraus zu schreiben. Da ist zunächst einmal die gesellschaftliche und natürliche Wirklichkeit, und dann ist die selbst schon die sekundäre Wirklichkeit, die sie in Büchern antreffen und in Bildern. Und die Leute erzählen einem ja auch Geschichten, die ihnen selbst erzählt worden sind, sodass es so eine Art 'chinese box'-Effekt gibt – das wird immer komplizierter."

Eben diese verschachtelte Konstruktion hat Kuratorin Heike Gfrereis gereizt, dem eigenen Interesse für Analogien nachzugeben, dem Spiel von Zitaten und visuellen Analogien:

Heike Gfrereis: "Sebald ist nie an der historischen Konstruktion gelegen, das heißt: hat es genauso ausgesehen? Sondern am Vergegenwärtigen von Atmosphären."

Man könnte auch sagen: am Hineindenken, dem Erfühlen und Nacherleben jener fiktiven Lebensläufe des 20. Jahrhunderts, in denen der Autor sich spiegelte, hinter denen er sein eigenes "Ich" verbarg und zugleich offenbarte, was ihn selbst geprägt hat:

W. G. Sebald: "Ich glaube, dass das was gestern in Bonn oder Bad Godesberg passiert ist, auf meine eigene Verfassung überhaupt keinen Einfluss hat. Während etwas von dem, was mein Großvater mir bei einem Spaziergang im 54er Jahr vielleicht nebenbei einmal gesagt hat einen durchaus sehr wichtigen Einfluss auf mich ausüben kann."

Überraschend und neu ist nun zu sehen, wie es dem Literaturmuseum gelingt, diese flüchtigen Erinnerungen mithilfe des Nachlasses ins Bild zu setzen:

Heike Gfrereis: "Das schöne ist, dass Sie diese Empfindungen auf Spaziergängen, wo jemand etwas erzählt und vor allem auch lebendig macht, im Nachlass von Sebald wiederentdecken können. Weil er selber solche Glücksmomente auch markiert hat mit Strichen. Also selber auch die Bücher als Landschaft definiert hat, durch die er wandert."

Und so vereinen sich die Spuren des aufmerksamen Zuhörers Sebald mit den Hinterlassenschaften eines passionierten Zuschauers und Bildersammlers:

Heike Gfrereis: "Das Foto ist eigentlich genau das, was Sebald auch macht: ich kann Dinge mitnehmen, ohne sie vom Ort zu rauben. Sebald hat natürlich auch damit gespielt, auszuprobieren: hat ein Foto, ein Bild von sich selber aus eine Bedeutung, die es wirklich macht? Oder wird es erst zur Wirklichkeit, zum bedeutungshaltigen Segment, indem ein Text dazu kommt?"

Natürlich dürfen die Texte nicht fehlen. Und Fotos dürfen für allerlei herhalten, nur nicht als dekorative Illustration. Mit dieser Erkenntnis springt uns in Marbach ein überraschend lebendiger, ja subtil aufrührerischer Geist aus den Nachlassschachteln des W. G. Sebald an:

W. G. Sebald: "Fotografien haben etwas Nomadisches an sich. Wenn jemand stirbt, werden sie in Schachteln gestopft und verschwinden irgendwo. Und dadurch, dass sie einem dann so unvermittelt wieder begegnen, hat ihr Auftauchen aus der Vergessenheit etwas Gespenstisches an sich. Sie kommen also wie Geister auf einen zu."