"Melancholie ist ein aktuelles gesellschaftliches Problem"

Moderation: André Hatting · 16.02.2006
Der Berliner Soziologe Wolf Lepenies sieht als Folge der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland eine "kollektive Melancholie". Um ihr zu entgehen, müsse viel mehr Phantasie aufgewendet werden, forderte Lepenies im Deutschlandradio Kultur Staatliche Programme helfen nach Ansicht von Lepenies nicht mehr. Darum sei die Lösung nicht immer Arbeit, aber eine "Form produktiver Tätigkeit".
Hatting: Was meint man eigentlich genau mit melancholisch?

Lepenies: Was man genau meint, weiß ich nicht. Aber ich glaube, die richtige Antwort hat Heinrich Heine gegeben: "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten." Das Entscheidende ist: Wir wissen es nicht genau, es gibt etwas, was sich unseren Erklärungsversuchen entzieht. Die Melancholie flieht vor uns, wenn wir sie erklären wollen, und ich glaube, es gibt hier eine Nähe zur Kunst. Das Entscheidende der Kunst, oder jedenfalls der großen, gelingenden Kunst ist das, was man im Französischen nennt, dieses "Je ne sais quoi.": Ich weiß nicht genau, was es ist. Ich glaube, es ist diese Unbestimmtheit, die dann auch Melancholie und Kunst verbindet. Es gibt einen Kern, es gibt ein Geheimnis, und die entziehen sich uns, und das macht es so attraktiv.

Hatting: Und das könnte auch der Grund dafür sein, warum das Motiv der Melancholie zum Beispiel jetzt in der Ausstellung in Paris über 300.000 Menschen sehen wollten. Es scheint also bis heute ein Faszinosum für die Menschen zu sein. Warum hat sich hat sich eigentlich der Glaube so lange gehalten, dass die Kehrseite der Melancholie, oder etwas, was sie begleitet, immer das Genie sei?

Lepenies: Das ist eine alte Tradition, die auf einen Teil des Corpus Aristotelicum zurückgeht. Das muss man so vorsichtig ausdrücken, weil man nicht genau weiß, ob es von Aristoteles selber stammt. Aber jedenfalls in einer dem Aristoteles zugeschriebenen Schrift heißt es - es ist eine Frage, es ist kein Beleg, es ist keine Behauptung: Warum sind alle großen Männer, glaube ich, heißt es, wie es damals üblich war, in Kunst und Wissenschaft melancholisch? Es ist keine Behauptung. Es ist eine Frage, also es ist etwas, was der Autor beobachtet hat anscheinend, und diese Beobachtung hält sich dann.

Ich glaube, darin liegt auch eine Art von Selbstverstärkung, denn umgekehrt könnte man sagen, man kann sich auch die Attitüde der Melancholie zulegen und glaubt, dadurch einen gewissen kulturellen Profit zu halten. Ich glaube, das sind wechselseitig sich verstärkende Vorstellungen. Es gibt dann aber ja sehr schnell auch die Gegenvorstellungen, etwa später sehr stark in der Kirche, dass die Melancholie, dass das Brüten, das In-sich-hinein-Horchen etwas Schädliches sei, was man auf alle Fälle verhindern müsse. Also, es gibt einen Melancholieverdacht, es gibt ein Melancholieverbot und es gibt eine Überhöhung der Melancholie. Das Spannende an der europäischen Geistesgeschichte ist, dass diese beiden Stränge nebeneinander laufen.

Hatting: Kann es sein, dass die Kirche auch deswegen dieses Melancholieverbot verhängt hat, weil es den Zweifel an dem Glauben, an dem Gott, bedeuten würde?

Lepenies: Ich glaube, der entscheidende Grund, der die Kirche dazu bewegt gegen das, was man die Acedia nennt, also die Mönchskrankheit, ist, dass das Individuum sich zu sehr auf sich selber konzentriert. Aber man soll natürlich als Glaubender offen sein für die Botschaft des Glaubens und natürlich auch für Gott. Es steckt ein gewisser, ja, man könnte fast sagen, zu selbstbezogener Egoismus darin zu glauben, man könnte die Lösung bestimmter Probleme im Grübeln finden. Das ist etwas, was ja mit dem Glauben und mit der Botschaft des Glaubens nicht vereinbar ist.

Hatting: Sie haben vorhin das Corpus von Aristoteles angesprochen. Wir finden bei den Griechen auch die Vermutung, dass die Melancholie eine körperliche Fehlfunktion sei. Der Melancholiker produziere zu viel schwarze Gallenflüssigkeit. Diese Überlegung, dass Melancholie etwas Körperliches sei, hat sich ja nun gegeben. Reicht es mittlerweile zu sagen, es sei die Spannung, etwas nicht zu begreifen, sei das Unvollkommene?

Lepenies: Ja, wir begeben uns jetzt in den Bereich der Klinik, und da würde man vermutlich eher von Depression als von Melancholie sprechen. Melancholie, glaube ich, ist kein klinischer Tatbestand in dem Sinne, dass sich empirisch wirklich feststellen ließe, worum es sich nun bei Melancholie wirklich handelt. Ich mag da Unrecht haben, aber ich bin mit den klinischen Dingen nicht vertraut. Ich denke, man sollte sich bei der Melancholie darauf konzentrieren, sie als einen geistes-, aber auch sozialgeschichtlichen Tatbestand zu nehmen, und wie es sich dann mit den medizinischen oder physiologischen Grundlagen verhält, das müssten dann schon die Mediziner sagen.

Hatting: Bleiben wir bei der Geistesgeschichte, bleiben wir bei der Sozialgeschichte. In Ihrer Dissertation "Melancholie und Gesellschaft" stellen Sie die These auf, dass die Melancholie durchaus auch etwas Produktives haben könne. Warum?

Lepenies: Das ist eine These, die ich natürlich von anderen übernommen habe. Das ist eine Gemeinvorstellung in den Betrachtungen über Melancholie. Die Melancholie hat etwas Produktives, das klingt etwas paradox, weil sie zunächst einmal mit Hemmungen zu tun hat. Melancholie ist auch Handlungshemmung. Melancholie ist ein Zustand von jemandem, der eigentlich etwas tun will, es aber nicht tun kann. Dann auf sich zurückgeworfen ist und anfängt, darüber nachzudenken in dieser Dauerreflexion, warum etwas nicht funktioniert.

Und daraus kann dann aber so etwas werden wie ein Handlungsüberschwang. So ähnlich - jetzt begebe ich mich gefährlicherweise doch wieder etwas in die Klinik - wie bei manisch-depressiven Zuständen, wo aus der Depression dann die Manie erwächst, sozusagen das Umschlagen in die Handlung. Also wenn man es schafft, als Melancholiker produktiv zu sein, dann entstehen große Kunstwerke. Aber ich würde nicht so weit gehen zu sagen, man muss Melancholiker sein, damit große Kunstwerke entstehen.

Hatting: Das wäre auch ganz schön bedauerlich und wahrscheinlich enttäuschend für viele Menschen, für viele Künstler. Das würde doch bedeuten, wenn ich das richtig verstehe, dass der Utopist oder derjenige, der dann zur Tat schreitet, nicht nur der Künstler, sondern auch meinetwegen der Revolutionär, dass der ein umgedrehter, ein umgeschlagener Melancholiker ist?

Lepenies: Ja, vielleicht sollte man hier doch den Ausdruck "Intellektueller" verwenden, und in der Tat finde ich in der europäischen Geistesgeschichte fast am interessantesten den Zusammenhang von Utopie und Melancholie. Der Intellektuelle ist ja jemand, der in der Regel durchaus etwas tun möchte, aber nichts tun kann, nichts tun will, aufs Denken zurückgeworfen wird, auf die Dauerreflexion, wie man das auch genannt hat. Und dann kommt der Punkt, wo bestimmte Intellektuelle unzufrieden sind über dieses Nur-nachdenken-können, Nur-nachdenken-müssen. Und dann erfolgt der Umschlag, der Versuch, diese Welt, in der man nichts tun kann, so wie ist, dann zu der Welt zu machen, wie man sie sich vorstellt, und das ist die Utopie.

Deswegen ist es so interessant und wie ich finde fast zwangsläufig, dass sich in allen Utopien Melancholieverbote finden. Man darf in der Utopie nicht melancholisch sein. Das setzt sich wiederum fort in den großen totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts. Sie finden das sowohl bei Stalin wie bei Hitler, diesen Verdacht gegenüber Personen in ihrer Umgebung, die traurig sind. Das sind die konstitutionellen Abweichler, das sind die Leute, vor denen man auf der Hut sei muss. Da sind die, die zu viel denken. Jetzt sind wir schon wieder fast bei einer shakespeareschen Figur, aber das hält sich durch. Also auf der einen Seite das Brüten, das in sich gekehrt Sein, auf der anderen Seite der Handlungsüberschwang. Melancholie und Utopie, beide gehören zusammen.

Hatting: Verharren wir kurz bei Shakespeare. Die Amerikaner werfen den Europäern vor, sie seien Hamlet. Das ist in der Tat ein Vorwurf. Sie würden aber sagen, das muss gar kein Vorwurf sein, nach dem, was Sie gerade ausgeführt haben?

Lepenies: Also, man sollte vielleicht daran erinnern, dass dieser Vorwurf zunächst eine Art Selbstvorwurf ist. Ich weiß nicht, wann das zuerst auftaucht. Das Früheste, womit ich mich beschäftigt habe, ist Paul Valéry, und das ist so um den Ersten Weltkrieg herum, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, wo Valéry davon spricht, Europa sei der Kontinent Hamlets. Und damit meint er, es ist jetzt ein Kontinent geworden, der droht, auf sich zurückzuziehen, sich nur noch auf sich zu konzentrieren, die Welt nicht mehr zu sehen oder eben zu erkenne, wie Valéry sagte, dass die Europäisierung der Welt an ihr Ende gekommen ist.

Das ist ein melancholischer Tatbestand für die Europäer, in der Tat, und dann sagt er, jetzt droht uns noch mehr dieses Sich-zurückziehen auf uns selber. Das nehmen dann die Amerikaner auf, auch anknüpfend an europäische Amerikabegeisterung, und jetzt gibt es in den jüngsten Auseinandersetzungen den Vorwurf, Europa, das sei Hamlet, aber Amerika sei eben Fortinbras, der junge, forsche Norwegerprinz, der am Ende die Dinge wieder in Ordnung bringt. Aber man sollte vielleicht darüber nachdenken, womit man mehr Unheil anrichtet, und ich würde das Urteil mal im Moment offen lassen.

Hatting: Der Schriftsteller Robert Burton schrieb im 17. Jahrhundert eine Anatomie der Melancholie. Danach hat er verkündet, ich habe über die Melancholie geschrieben, um mir sie mit dieser Unternehmung vom Leib zu halten. Sie haben über die Melancholie promoviert - aus demselben Grund?

Lepenies: Nein. Ich habe nicht aus demselben Grund promoviert. Ich habe das Melancholiebuch aus einem ganz anderen Grund geschrieben. Ich wollte ein Buch über La Roche-Foucault schreiben, und La Roche-Foucault ist einer der ganz großen Melancholiker der europäischen Geistesgeschichte. Er ist Handlungsmensch, er gehört zur "front", also zu den Franzosen, die den Adelsaufstand wagen der alten Adeligen gegen das zentrale Königtum. Er scheitert, und aus dem Handlungsmenschen, dem Machtmenschen, demjenigen, der mit dem Degen umgeht, wird ein Mensch, der mit der Feder handeln muss, der Maximen produziert, der sich im Salon aufhalten muss.

Eine ganz wunderbare Figur, auch ein ganz großer Schriftsteller. Ich wollte über La Roche-Foucault schreiben, und dann hat die Melancholie mich übermannt, und ich habe nicht nur über ihn geschrieben, sondern auch über andere Melancholiker. Aber ich würde jetzt nicht für mich in Beschlag nehmen, dass das irgendwie eine Form war, mich von irgendetwas zu heilen.

Hatting: Was empfehlen Sie zur Linderung?

Lepenies: Ich empfehle zur Linderung vernünftiges, nicht exzessives Nachdenken und körperliche Bewegung.

Hatting: Arbeit?

Lepenies: Arbeit ist ein sehr wichtiges Stichwort in dem Zusammenhang. Es gibt im 19. Jahrhundert diese Aufforderung von Thomas Carlyle: "Arbeiten und nicht verzweifeln." Das ist ein Topos in der Melancholiegeschichte. Man soll etwas tun, man soll arbeiten, um seiner Melancholie Herr zu werden. Das hängt natürlich damit zusammen, dass der Mensch, anthropologisch gesehen, definiert wird - völlig zu Recht - als das handelnde Wesen. Der Mensch muss handeln. Der Mensch muss etwas tun, was übrigens nicht heißt, er muss arbeiten. Arbeit ist nicht Handeln. Aber Arbeit ist eine wichtige Unterform des Handelns, und im 19. Jahrhundert ging man in der Tat davon aus, dass Arbeit ein Gegenmittel gegen die Melancholie sei, ist übrigens ein Teil auch immer der Therapie gewesen bei der Depression.


Dann stellt sich allerdings heute die Frage, die dann doch ein bisschen fatal wird: Was tun, wenn es nicht genug Arbeit gibt? Wir stehen ja vor der Frage. Ich bin fest davon überzeugt, dass es Erwerbsarbeit in dem Umfang, wie wir sie mal kannten, nicht mehr geben wird. Da helfen alle Hartz IV bis Hartz N Programme nicht, und jetzt fragt sich, was tut man dagegen? Und man wird nicht immer etwas mit Arbeit dagegen tun können, aber man wird etwas dagegen tun mit produktiver Tätigkeit, und ich glaube, unsere Gesellschaften stehen vor der Frage, ob sie, um, ja, nennen wir es ruhig so, kollektiver Melancholie zu entgehen, nicht viel mehr Fantasie aufwenden müssen, um viele Menschen zu produktiver Tätigkeit zu bringen, wenn es traditionelle Erwerbsarbeit im vollen Umfang nicht mehr gibt. Insofern ist die Melancholie ein hochaktuelles Problem.

Service:
Mit dem Thema beschäftigt sich die Ausstellung "Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst", die vom 17. Februar bis zum 7. Mai 2006 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen ist.