Meisterwerk voll skurrilem Humor

02.05.2008
Thomas Pynchons "Gegen den Tag" ist ein Meisterwerk, wie man es als Literaturkritiker vielleicht nur einmal in seinem Leben annoncieren darf. Der mittlerweile 70-jährige Thomas Pynchon lebt seit Jahrzehnten in selbstgewählter Anonymität, gibt keine Interviews, veranstaltet keine Lesungen, nimmt an keinen Paneldiskussionen teil, sondern vertraut ganz auf die Stärke seiner Bücher. Und das kann er auch.
Warum ist "Gegen den Tag" ein Meisterwerk? Lassen Sie mich nur drei Gründe nennen. Erstens: Aktueller als hier hat Pynchon nie geschrieben. Er schildert ein Land des ungezähmten globalen Raubritterkapitalismus, ein Land, in dem jede politische Hoffnung stirbt. Diesen Blick in den Spiegel muss man erst einmal aushalten.

Zweitens ist Thomas Pynchon auf seine Weise mit "Gegen den Tag" ein mitreißender Familienroman gelungen, in dem es um Mord, Rache und Eifersucht geht: und das alles ganz unsentimental, ohne Kitsch und doch zu Tränen rührend.

Auch wenn die Handlung in weiten Bögen ins Innere Asiens, nach Mexiko und Albanien, London, Paris und Venedig, in ein Irrenhaus nach Göttingen, zu den Tatzelwürmern in den Schweizer Alpen und in einem Sandschiff unter, ja, wirklich unter die Wüste führt: Letztlich erzählt Pynchon von den vier Kindern des amerikanischen Anarchisten Webb Traverse, der als "Kieselguhr Kid" im Wilden Westen mit Dynamit für gerechtere Verteilung und Eigentumsverhältnisse sorgen möchte und dadurch ins Visier des Erzkapitalisten Scarsdale Vibe gerät, der ihn durch zwei Auftragskiller beseitigen lässt. Seit dem "Graf von Monte Christo" wurde nicht mehr so genüsslich von Rache erzählt.

Und drittens und nicht zuletzt ist Thomas Pynchons vielleicht größte Stärke in diesem Buch sein herrlich skurriler Humor. Gewiss, Quaternionisten als "die Juden der Mathematik" zu bezeichnen, wird nicht bei jedem Schenkelklatschen auslösen. Auch darf man, zumindest als deutschsprachiger Leser, von den in Göttingen, also im "Land of Lederhosen", so Pynchon, spielenden Passagen ein wenig enttäuscht sein. Aber der Henry James lesende Hund Pugnax, kommunizierende Kugelblitze und Tornados namens Thorvald sowie die herrlich albernen Songs tragen über manche Durststrecke hinweg.

Das spektakulärste Kabinettstück dieses Romans ist aber Thomas Pynchons Verneigung vor der technikbegeisterten Abenteuerliteratur der Jahrhundertwende: seinen jugendlichen Luftschiffern an Bord der "Inconvenience", den "Freunden der Fährnis", gönnt Pynchon das vielleicht schönste Happy End der modernen Literatur.

Man kann diesen Roman nicht nebenbei lesen. "Ganz oder gar nicht" lautet der stillschweigende Untertitel des neuen Pynchon. Das allein schon unterscheidet "Gegen den Tag" von 99 Prozent der 90.000 Neuerscheinungen, die in diesem Jahr im deutschsprachigen Raum erscheinen werden.

Rezensiert von Denis Scheck

Thomas Pynchon: Gegen den Tag
Deutsch von Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl
Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg 2008
1596 Seiten, 29.90 Euro