Meisterwerk über Meisterdenker

Herbert Marcuse – war das nicht der Chefdenker der „kritischen Theorie“? Ober-Guru der 68er, die für die Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt“ ebenso schwärmten wie für die der eigenen Sexualität, die in der Demokratie vor allem „Repressive Toleranz“ am Werk wähnte und ergo sich genötigt sah zu militantem Anti-Amerikanismus? Was hat der mit dem Kalten Krieg zu tun?
Marcuse war in der Tat ein Meisterdenker einer heute kaum vorstellbar kritischen Theorie, sagt Tim B. Müller, der seit Jahren über ihn forscht und jetzt mit „Krieger und Gelehrte“ selbst ein Meisterwerk vorlegt. Für Müller sind Marcuses wirklich wichtige Werke aber nicht die späten, sondern die in seinem „schweigsamen Jahrzehnt“ verfassten. In der Zeit arbeitete er für den US-amerikanischen Geheimdienst. Das war bekannt. Nicht bekannt war, was genau er dort trieb, aus welchen Motiven und mit welchen weltpolitischen Perspektiven. Das präpariert Müllers „geistesarchäologische Wühlarbeit“ Blatt für Blatt, Sitzungsprotokoll für Sitzungsprotokoll heraus, manchmal mit mikroskopischer Analyse einzelner Formulierungen in Dokumenten ohne Autorennamen.

Mit dem Kriegseintritt brauchen US-Politik und -Militär systematisches Wissen über den Kriegsgegner. Emigranten aus Nazi-Deutschland sind hochqualifiziert für diese Gegnerforschung, die der psychologischen Kriegführung dient. Marcuse stellt 1942 seinen Kopf dem Office of Strategic Services zur Verfügung, dem Vorläufer der CIA, und arbeitet dort im Kollektiv mit anderen deutschen Linksintellektuellen und amerikanischen Gelehrten. Nach dem Krieg forschen und füttern sie weiter höchste politische Entscheidungsträger, im Geheimdienst des State Department. Der nunmehr zu analysierende Gegner heißt Kommunismus.

Was sie verbindet, ist eine einzigartige historische Konstellation. Müller nennt sie den „politisch-philanthropischen Komplex“. Staatliche Stellen und philanthropische Stiftungen sind untereinander und mit Universitäten und dem Kultur- und Bildungsbürgertum vernetzt. Das ist der materielle Unterboden einer souveränen Liberalität, in der selbst bürokratische Schlapphüte explizit Wert auf „abweichendes Wissen“, „unkonventionelles Denken“ und ständige Selbstkorrektur legen. Marcuse steigt bis zum Chef der Kommunismusforscher auf und darf Top-Secret-Dokumente einsehen, bevor er 1951 auf von der Rockefeller Foundation geförderte Universitätsstellen wechselt.

Seine Teams haben in Hunderten von Memos und strategischen Einschätzungen den Mythos vom Kommunismus als Verschwörung zur Welteroberung konterkariert, seine inneren Widersprüche, nationalegoistischen Grabenkämpfe, ökonomischen und militärischen Schwächen auseinandergenommen. Ihre Gegnerforschung zielt nicht auf die Vernichtung des Gegners, sondern sucht nach Chancen für Koexistenz. Marcuse, und mit ihm höchste Regierungsstellen, wissen genau: Was Stalin antreibt, ist ein so verständliches wie neurotisches Sicherheitsbedürfnis gegenüber Deutschland. Nicht Welteroberungslust.

Aber Anfang der 1950er Jahre, im Kalten Krieg der McCarthy-Ära, ist die Zeit des „intellektuellen Zauberbergs“ vorbei. Die Politik zieht Verschwörungsparanoia vor. Die fatalen Folgen kennen wir. Die Denksysteme dahinter, die „intellektuelle Architektur“ dieser wirkmächtigen Epoche, legt Tim B. Müller konsequent und minutiös historisierend frei. Und verdammt spannend zu lesen ist das Ganze auch noch.

Besprochen von Pieke Biermann

Tim B. Müller: Krieger und Gelehrte – Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg
Hamburger Edition, Hamburg 2010
736 Seiten, 35,00 Euro