Meisterin der großen und der kleinen Form

19.12.2007
Obwohl Selma Lagerlöf 1909 als erste Frau den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist sie oft als Märchentante bezeichnet worden. Dabei hat die 1858 auf dem Gut Mårbacka in Värmland geborene Schriftstellerin der schwedischen Literatur zur Weltgeltung verholfen.
Ihr literarisches Debüt, der 1891 erschienene Roman "Gösta Berling" (dt. 1896), markiert aus heutiger Sicht den Beginn des schwedischen Fin de Siècle. Lagerlöfs Erstling wird in einer Zeit geschrieben, in der nicht nur die Naturwissenschaften, allen voran die Humanmedizin, an enormer Bedeutung gewinnen, sondern auch die Psychoanalyse entsteht. Diese Entwicklung ist Lagerlöf keineswegs entgangen. Ab 1881 besucht sie ein Mädchengymnasium in Stockholm und nimmt bald schon Kontakt zu reformpädagogischen Strömungen sowie zur schwedischen Frauenbewegung um Ellen Key auf. Ihre Abnabelung von einer Genealogie skandinavischer Gutstöchter vollzieht sich 1897 mit dem Entschluss, als freie Schriftstellerin zu leben.

Dass Lagerlöf neben ihren Romanklassikern, zu denen auch die "Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen" (1906/07) gehört, die kleinen Prosaformen grandios beherrscht, beweist die Sammlung "Geschichten von Trollen und Menschen". Der Titel geht auf den Verleger Karl Otto Bonnier zurück, der damit einem Vorschlag der Autorin zustimmte. Die nun vorliegende Ausgabe enthält neun Erzählungen, die zwischen 1892 und 1914 entstanden. Das Herzstück bildet die bekannte Erzählung "Herrn Arnes Schatz", die Gerhart Hauptmann zu seiner dramatischen Dichtung "Winterballade" inspirierte. Die Erzählung basiert auf einem authentischen Kapitalverbrechen, das im 16. Jahrhundert in der schwedischen Region Bohuslän geschah. Ein Pfarrhof, in dem sich eine wertvolle Schatzkiste befindet, wird ausgeraubt und niedergebrannt. Mit psychologischem Gespür schildert Lagerlöf, wie die Frage der Schuld und Sühne noch Jahre nach der Tat alle Beteiligten und Mitwisser in Bann hält.

Auch die Erzählungen "Der Wechselbalg" (1908) und "Der dienstbare Geist" (1913) zeigen Lagerlöf als eine Meisterin dramatischer Erzählkunst, der es nicht nur um äußere Spannung geht. Sie lotet die Gedankenwelt und Handlungen ihrer Figuren tief aus. So klingt in der Geschichte vom "Wechselbalg" zwar das klassische Thema des Kindertausches an, doch handelt es sich um einen ungleichen Tausch. Während das Menschenkind in den Wäldern verschwindet, lebt fortan ein Trollkind im Dorf. Indem die Mutter den Bastard nicht von sich stößt, wiegelt sie nicht nur den Mann, sondern die ganze Gemeinde gegen sich auf. Ein frühes, sozialkritisches Psychogramm entsteht.

Rezensiert von Carola Wiemers

Selma Lagerlöf: "Geschichten von Trollen und Menschen"
Aus dem Schwedischen von Marie Franzos.
Mit einem Nachwort herausgegeben von Holger Wolandt.
dtv 2007. 256 Seiten. 9,50 Euro.