Meisterhafte Britten-Inszenierung

Von Frieder Reininghaus |
1898 publizierte der aus New York stammende Henry James die Erzählung "The Turn of the Screw" - eine Novelle menschlicher Abgründe, die von Benjamin Britten für die Oper adaptiert wurde. Robert Carsen hat sie jetzt mit Cornelius Meister als Dirigent wieder auf die Bühne geholt.
Schon der Prolog offenbart merkwürdige Geschehnisse in einem abgeschiedenen alten Landsitz, die zum Verderben der Kinder Flora und Miles führen. Sie wachsen, umsorgt von etwas Hauspersonal, auf dem Gut Bly auf. Im Kontrast zur "Unschuld" der ländlichen Idylle steht, dass der etwa 13jährige Miles gerade der Schule verwiesen wurde mit der Begründung, er "verderbe" seine Klassenkameraden, als eine neue Gouvernante auf Bly ihren Dienst antritt. Die wurde vom einzigen Verwandten und Vormund der Kinder, einem vielbeschäftigten Mann in der Hauptstadt, engagiert – unter der Vorgabe, daß er des Weiteren nicht behelligt zu werden wünsche.

Rasch wird die junge Governess gewahr, dass an ihrem Arbeitsplatz merkwürdige Vorgänge stattfinden: Quint, der verstorbene Hausdiener, spukt im Haus und scheint auf den Knaben einen stark negativen Einfluss auszuüben. Robert Carsen zeigt den Prolog des Kammerspiels, dessen Dramaturgie an klassische Drehbücher erinnert, als altmodischen Diavortrag. Damit deutet sich an, daß das 1954 in Venedig uraufgeführte Werk seiner Patina nicht gänzlich entkleidet werden sollte, auch dann nicht, wenn im Folgenden die Einblendungen von Filmsequenzen in Schwarz-Weiß zentrale Textstellen aus heutiger Sicht kommentieren.

Carsen nähert sich den vom Libretto gegebenen Hinweisen auf den Kern der Irritationen und Schrecken mit kühler Präzision und analytischer Schärfe: Quint hat, wie nach und nach zu erfahren ist, nicht nur die frühere Gouvernante Jessel erobert und geschwängert (die sich daher umbrachte), sondern seine sexuelle Begierde auch auf die Kinder gerichtet (zumindest auf Miles). Das scheint die Quelle der "Verderbtheit", die der Junge auch selbst als schuldhaft empfindet.

Unter Leitung von Cornelius Meister entfaltet das aus Mitgliedern des ORF Radio-Symphonieorchesters gebildete Ensemble im Graben des Theaters an der Wien die Grundierung des Unbehagens und des Entsetzens und unterstreicht dabei die Komponente traditioneller Filmmusikdramaturgie, die vorm Griff in die Stilmittelkiste der Spätromantik nicht zurückscheute, ebenso wie die Momente der neuen Sachlichkeit, die diese Kammeroper so luzide erscheinen lassen.

Nikolai Schukoff verkörpert mit viriler Stimme die hemmungslose Begehrlichkeit des Quint. Jennifer Larmore zeigt – gestützt auch auf die wiederum einbezogenen filmischen Fingerzeige – in der Rolle der ehemaligen Gouvernante Jessel, welche abgründigen Zusammenhänge zwischen Verführung und einem ihm entgegenkommenden Begehren bestehen mögen. Das Abgründige scheint in diesem Fall (und nicht nur in diesem) der Abwesenheit des Aufklärerischen (oder zumindest der rational gedachten Kontrolle) zu bedürfen.

Ann Murray erweist sich als wunderbare Charakterdarstellerin für die Haushälterin Grose, die zwar eine Menge mitbekommt, sich aber nicht traut, die wichtigen Informationen weiterzugeben und überhaupt in diesem System von Verklemmung und Verdrängung eine Schlüsselrolle einnimmt. Sally Matthews beglaubigt die Hoffnungen und Selbstzweifel, die Irritationen und schließlich die Kampfbereitschaft der Governess mit perfekt sitzendem Sopran und angemessener Dosierung der Gesten. So fand sich – bis hin zu den Kinderdarstellern Eleanor Burke und Teddy Favre-Gilly ein hochkarätiges Ensemble, um eine durchgängig intensive Interpretation auf den Weg zu bringen. Und die endet mit dem Versuch von Miles, die Schatten Quints abzuschütteln: Er sucht sich in Abwehr der Aufdringlichkeiten des "Gespenstes" auf die Seite der Gouvernante zu schlagen. Doch es geht ihm wie dem Knaben in Goethes berühmtem Erlkönig: In ihren Armen – das Kind war tot.

In ihrer Mischung aus nobler Diskretion und klarer Entschiedenheit ist Robert Carsen und Cornelius Meister eine Produktion gelungen, die zumindest in ihren Bann zieht – eine meisterhafte Inszenierung mit makelloser Musik. Zu den Kuriositäten des Betriebs gehört, dass aufgrund der Beschränktheit der deutschen Musikkritik bei deren periodischem Rating (das ohnedies ein Unding ist) der Regisseur Carsen mit schöner Regelmäßigkeit das Nachsehen hat. Von den Figuren, die sich in der Berliner Kritikerszene als tonangebend aufspielen, hat sich keine ins Theater an der Wien bemüht.