Meinungsumfragen

Wenn Demoskopie nur Unsinn produziert

04:23 Minuten
Illustration mit Prozentzahlen, Telefonsymbolen und Silhouetten von Köpfen.
Der Journalist Martin Tschechne findet, Meinungsumfragen stellen fast immer die falschen Fragen an die falschen Leute. © Imago / Ikon Images / Stuart Kinlough
Ein Debattenbeitrag von Martin Tschechne · 03.11.2020
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Suggestive Fragen, die auf Stimmungsmache abzielen - dazu häufig Befragte, die zwar eine Meinung, aber keine Ahnung haben: Für den Autor Martin Tschechne gibt es geradezu eine Pandemie der Umfragen. Bei denen selten etwas Belastbares herauskommt.
62 Prozent der Deutschen halten die Schutzmaßnahmen gegen Corona für angemessen.
52 Prozent Markus Söder für einen guten Kanzlerkandidaten.
58 Prozent sehen die Meinungsfreiheit in Gefahr.
Aber 100 Prozent sollten sich fragen: Was eigentlich soll der ganze Unsinn?
Kennen sich wirklich so viele so gut in der epidemiologischen Berechnung von Ausbreitungswegen aus? Im System der ruckartigen Bewegungen auf den Finanzmärkten oder im Gewirr der kämpfenden Parteien im Kaukasus? Können 62 oder 76 Prozent beurteilen, was sie da vor sich hinplappern? Oder gibt die Maßzahl doch nur etwas wieder, was andere erfolgreich vorgekaut haben: Meinungsmacher, Strategieberater, Influencer?
Meinungsumfragen sind der Stoff, der Empörung oder Angst, politischen Willen oder auch nur Aberglauben aus heißer Luft entstehen lässt. Es braucht nichts als ein paar hundert Freiwillige, die am Telefon ihr gewichtiges Urteil über die Suche nach einem Endlager für Atommüll oder die Arbeit der Großen Koalition abgeben – und schon schlägt das Politbarometer aus, der Deutschlandtrend hat seine Richtung, die Seite eins ihre Schlagzeile.

Die Fragen sind oft Stimmungsmache

Fragt einer, wer diese Gesalbten sind? Wer mitten am Tag erreichbar ist für so eine Befragung? Und wer die eigene Meinung für sowohl fundiert als auch bedeutsam genug hält, sie den Telefonistinnen und Telefonisten des Umfrageinstituts in die Strichlisten zu diktieren? Es lässt sich ausmalen…
Sind Kunstobjekte in deutschen Museen hinreichend geschützt? Die gewünschte Antwort steckt schon in der Frage.
Sollen die Parlamente stärker zu Entscheidungen zum Umgang mit Corona herangezogen werden? Wenn jeder als Experte angesprochen wird, ergibt sich auch in der Summe noch kein Expertenurteil. Da hilft alle Statistik nichts.
Und wie sicher fühlen Sie sich in Berlin? Gegenfrage: Sicher wovor? Hundehaufen auf dem Gehweg? Dem Verlust des Arbeitsplatzes? Vor steigenden Mieten? Der Gewalt krimineller Großfamilien? Egal, kommt alles in einen Topf.
Gegenfrage Nummer zwei also: Wie oberflächlich dürfen Fragen hingehuscht werden, um sich nicht auf den allerersten Blick als Stimmungsmache zu disqualifizieren?

Eine Pandemie der Befragungen

Der amerikanische Comedian Jimmy Kimmel hat die Pandemie der Befragungen zu einem Running Gag für die Zuschauer seiner Fernsehshow gemacht. Immer mal wieder schickt er ein Kamerateam auf die Straße und fragt die Passanten: Was halten Sie davon, dass Ivanka Trump Nachfolgerin der kürzlich gestorbenen Richterin Ruth Bader Ginsburg am Obersten Gerichtshof wird? Blühender Blödsinn, aber die Befragten geben brav ihre Meinung ab. Sollen wir wirklich Steuergelder aufwenden, um den Homo Sapiens zu retten? Häufigste Antwort: Steuergelder? – Um Himmels Willen, nein!
Oder auch nur: Nennen Sie ein beliebiges Land! Und dann stehen diese bedauernswerten Menschen vor einer Weltkarte, mündige Bürger wie Sie und ich, tippen mit einem Zeigestock auf Europa und sagen, das sei Australien. Man lacht innerlich und fühlt sich zugleich sehr ertappt. Gut, dass man nicht selber da gestanden hat, um sich mit der eigenen Ahnungslosigkeit lächerlich zu machen. Glauben Sie, dass Präsident Trump wiedergewählt wird? Und wie viele Gäste sollten allerhöchstens auf einer Hochzeitsfeier zugelassen werden?
Schön, wenn einer eine qualifizierte Meinung hat. Und schön, wenn es gelingt, aus vielen davon mittels Umfrage ein Meinungsbild zu erstellen. Es könnte ein Treibstoff für demokratisches Handeln sein. Aber jede Meinung setzt zumindest einen Hauch von Kenntnis voraus. Sonst sollte man sie seinen Mitmenschen ersparen. Und die Umfrage gleich dazu.

Martin Tschechne, gelernter Psychologe und Journalist aus Hamburg, hatte als Psychologe sehr viel zu tun mit Umfragen und Erhebungen, der Konstruktion von Fragebögen und ihrer statistischen Auswertung. Bis ihm irgendwann klar wurde, dass man damit dem wirklichen Leben auch nicht wesentlich näher kommt.

© privat
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