"Meine Großmutter war mein Fernseher"

Von Tobias Wenzel · 26.03.2007
Der kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow wurde vor 50 Jahren mit seiner Erzählung "Dshamilja" bekannt. Auf der Leipziger Buchmesse stellte er seinen neuesten Roman "Der Schneeleopard" vor. Seine wichtigste Inspirationsquelle sei seine Großmutter, bekennt der Schriftsteller im Interview.
Tschingis Aitmatow begrüßt sein Gegenüber mit einem äußerst schlaffen Händedruck. Geradeso als hätte er beim Reichen der Hand schon wieder den Sinn dieser Bewegung vergessen. Das hätte man nicht erwartet von diesem Kraft ausstrahlenden Mann mit den groben Gesichtszügen: große, runde Nase, breite Lippen, buschige Augenbrauen. Aitmatows nach hinten gekämmte weiße Haare schimmern bläulich und erzeugen eine wohl unbeabsichtigte Harmonie mit dem hellblauen Hemd. Er wisse einfach nicht mehr, was ihn dazu veranlasst habe, seinen aktuellen Roman "Der Schneeleopard" zu schreiben, erzählt der 78-jährige kirgisische Autor:

"Aber ich denke, es ist weniger wichtig zu wissen, was am Anfang stand, als was am Ende dabei herausgekommen ist."

Herausgekommen ist ein Roman, in dem sich Mensch und Tier auf schicksalhafte Weise begegnen: der unabhängige Journalist Arsen und der in die Jahre gekommene Schneeleopard Dschaa-Bars. Arsen begleitet als Dolmetscher und Touristenführer arabische Prinzen auf ihrer Jagdpartie in der kirgisischen Natur. Bis es zur Begegnung mit dem Schneeleoparden kommt. Weiß er, Tschingis Aitmatow, noch, wann er solch eine Raubkatze zum ersten Mal gesehen hat?

"Ja, daran erinnere ich mich. Ich war damals noch ein Kind. Ich sah Jäger, die einen Schneeleoparden erlegt hatten. Später dann habe ich Schneeleoparden natürlich auch im Zoo gesehen. Bei uns und in der gesamten Sowjetunion konnte man Schneeleoparden sehen. Und das kann man auch heute noch."

Während er das erzählt, mit verschränkten Armen, den Schlüssel seines Hotelzimmers in der rechten Hand, lässt Tschingis Aitmatow seinen Blick durch den Frühstücksraum schweifen. Nur sein Gegenüber sieht er nicht an. Mit einer Ausnahme: als in einer Frage das Wort Heidelberg auftaucht. Er reise sehr oft durch Deutschland, sehe sich viele deutsche Städte an. Vor allem Heidelberg habe bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen:

"Als ich in Heidelberg war, sah ich das Schloss und den Schlosspark. Der Blick vom Schloss runter auf den Fluss hatte etwas sehr Romantisches und die Phantasie Anregendes. Als ich meinen Roman 'Der Schneeleopard' schrieb, musste ich sofort an Heidelberg denken. Denn ich suchte nach einem Ort, an den ich die beiden Verliebten meines Romans schicken konnte und an dem sie ihren gemeinsamen Traum von der Oper 'Die ewige Braut' träumen konnten."

Denn Aitmatows neuer Roman ist auch die Geschichte einer gescheiterten Liebe. Der Journalist Arsen verliebt sich in die Sopranistin Aidana. Für sie schreibt er die Oper "Die ewige Braut". Aber sie wird zum Popstar und geht auf in der Glamourwelt. Hier wird sie sichtbar, die immer wiederkehrende Kritik Aitmatows an der oberflächlichen und umweltfeindlichen Moderne:

"Viel von meiner eigenen Sicht und Meinung ist in die Hauptfigur eingeflossen. Bei dem hohen Stand der Technik und Zivilisation, die wir heute erreicht haben, besteht natürlich die Gefahr, dass wir eine gewaltige Zerstörungskraft entfalten. Deswegen müssen wir unermüdlich davor warnen und darauf aufmerksam machen, dass unsere Verantwortung für die Natur wächst. Ein Beispiel: In Hochgebirgsgegenden, in Gebieten also, die bisher unberührte Natur waren, wird heute oft Gold abgebaut. Und selbst die Dorfbewohner, die um die Gefahren wissen, die drohen, wenn man so zerstörerisch in die Natur eingreift, machen da mit. Denn so haben sie wenigstens eine Verdienstmöglichkeit."

Der Journalist Arsen jedoch lehnt sich im Roman letztendlich gegen die Zerstörung der Natur auf und verfasst eine Erzählung über das Töten - nicht nur von Tieren. Das kommt nicht von ungefähr. Tschingis Aitmatows Vater wurde 1937 im Zuge stalinistischer Säuberungen verhaftet und hingerichtet. Mit 14 Jahren musste Aitmatow als Sekretär des Dorfsowjets arbeiten. Es sei einfach niemand sonst da gewesen, der die Arbeit hätte machen können, erinnert er sich. Später studierte er Tiermedizin, arbeitete als Journalist, bis er schließlich mit der Erzählung "Dshamilja" seinen Durchbruch als Schriftsteller hatte. Das, erzählt er, ohne eine Miene zu verziehen, habe er letztlich seiner Großmutter zu verdanken:

"Im Sommer war ich mit meiner Großmutter immer in den Bergen. Und dort hat sie mir die Mythen meines Volkes erzählt. Ich war so jung, dass ich noch nicht einmal lesen konnte. In gewisser Weise ist damals mein literarisches Schicksal bereits angelegt gewesen. Denn auch die Mythen funktionieren ja so wie die Literatur: Sie haben eine Erzählung, eine Entwicklung, einen Höhepunkt und die Lösung eines Konflikts. In meiner Kindheit gab es ja weder Radio noch Fernsehen, das heute die Kinder von früh bis abends konsumieren. Für mich war meine Großmutter mein Fernseher."

Fernsehersatz war auch das Nomadentum: Als Kind zog er mit seiner Familie und den Tieren des Klans umher, von Weide zu Weide. Kaum vorstellbar, dass der naturverbundene Aitmatow Ende der 80er Jahre zum Berater Gorbatschows wurde und dann zum kirgisischen Botschafter in Luxemburg. Ob er sich als Politiker und Diplomat fehl am Platze vorkam, kann Tschingis Aitmatow jetzt nicht mehr erzählen. Das nächste Interview wartet schon. Der Frühstücksraum des Hotels jedenfalls ist ganz offensichtlich nicht seine Welt.

Service:
Tschingis Aitmatow: Der Schneeleopard. Roman. Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer. Unionsverlag 2007. 313 Seiten. 19,90 Euro

Ab dem 20. April ist Tschingis Aitmatow auf Lesereise in Deutschland. Die ersten Stationen sind Wiesbaden, Mühlheim, Marburg, Stuttgart, Ganderkesee, Hamburg und Hannover.