"Meine Familiengeschichte ist Teil meiner Poesie"
Als in Albanien der stalinistische Diktator Enver Hoxha herrschte, war die heutige Autorin Luljeta Lleshanaku noch ein Kind. Die Schikanen hat sie dennoch nie vergessen - und in ihrer Lyrik aufgearbeitet. "Ich gehöre einer Familie an, die unter der Diktatur sehr gelitten hat", sagt sie.
Liane von Billerbeck: Beim diesjährigen Berliner Poesiefestival, das noch bis Freitag, bis zum 15. Juni, veranstaltet wird, ist auch die albanische Dichterin, Übersetzerin und Redakteurin Luljeta Lleshanaku zu Gast. Sie wurde 1968 im albanischen Elbasan geboren, wuchs in einer Familie von Oppositionellen gegen das Regime von Diktator Enver Hoxha auf, und das bedeutete, ihre Familie, also auch sie, musste unter Hausarrest leben. Bis Anfang der 90er-Jahre durfte sie weder studieren noch ihre Gedichte veröffentlichen.
Seit 1993, als ihr erster Gedichtband erschien, macht sie das umso mehr. Sie war Chefredakteurin des Magazins "Stimme der Jugend", als Autorin für "Drita" tätig, dem bedeutendsten Literaturmagazin Albaniens, und heute auch als Mitarbeiterin der Zeitung "Rlindja". Gedichtbände sind fünf von ihr erschienen, und in den USA wurden 2002 ihre Gedichte veröffentlicht unter dem Titel "Fresco: Selected Poetry". Beim Poesiefestival liest sie ihre Gedichte und spricht auch darüber, und jetzt ist sie bei uns. Herzlich willkommen, Luljeta Lleshanaku!
Luljeta Lleshanaku: Thank you, you invited me!
von Billerbeck: Sie gelten als eine der wichtigsten Stimmen der albanischen Lyrik – hat die eingeschränkte Lage, in der Sie und Ihre Familie unter Hoxha gezwungen waren zu leben, dazu geführt, dass Sie das, was da drinnen, in Ihnen stattfand, aufschreiben mussten?
Lleshanaku: Ja, ich gehöre einer Familie an, die unter der Diktatur sehr gelitten hat, die eingesperrt war, unter Arrest stand und in 40 Jahren einiges durchgemacht hat. Und wie Sie sagten, habe ich sehr jung angefangen zu schreiben, aber erst nach dem politischen Wechsel war es mir möglich, mein Geschriebenes auch zu publizieren, zu veröffentlichen. Unter dem kommunistischen Regime war mir das verwehrt geblieben davor.
Es stimmt auch, dass meine Familiengeschichte ein sehr wichtiger Teil meiner Poesie ist. Das ist eine Geschichte, die ich auch in meinem Leben, in meiner schriftlichen Darstellung bezeugen möchte. Und es betrifft ja fast drei Generationen, die immer unter diesen Einschränkungen leben mussten. Und meine Aufgabe ist es auch, dies zu zeigen, dies darzustellen, meine Familiengeschichte.
Andererseits gibt es auch ganz persönliche Prozesse, über die ich schreibe, die mir wichtig sind. Und obwohl ich ja, wie immer wieder auch vom Feuilleton und sonst wo bemerkt wird, zu einer sehr politischen Familie gehöre, ist meine Poesie an und für sich überhaupt nicht politisch. Ich wollte sozusagen etwas schaffen, das über die Geschichte meiner Familie auch hinausgeht, über die Religion und all diese Themen hinausgeht, ich wollte ein größeres Publikum erreichen. Wenn man zum Beispiel meine eigenen Töchter nimmt, die haben eigentlich gar keine genaue Vorstellung davon, was das Leben unter Hoxha bedeutet hat. Und auch diese Generation möchte ich ansprechen.
von Billerbeck: Nun hätten Sie aber auch Politikerin werden können mit so einer Familiengeschichte – wann war Ihnen klar, dass Lyrik, dass Sprache Ihre Welt ist?
Lleshanaku: Ich war mir nicht wirklich bewusst bis in die späten 80er-Jahre, dass das meine bestimmte, meine beste Kommunikationsform ist, und ich habe mit elf Jahren angefangen zu schreiben, das war eine Folge davon, dass ich schon als Kind immer sehr viel gelesen habe. Und etwas, das mich auch motiviert hat, war, dass ich meine Eltern alt werden sehen habe und sie diese große Verzweiflung in sich hatten, dass ihnen irgendwie klar war, dass sie gar keine Spuren hinterlassen würden von ihrer eigenen Existenz. Die Frage, die sich stellte: Lebten sie wirklich hier, haben sie wirklich hier existiert?
Es muss man so sehen, dass unter der Diktatur keine Individualität gefördert wurde. Individualismus fand sozusagen gar nicht statt in diesem totalitären System. Die Ideologie wollte Unterschiede sozusagen eindampfen. Das Kollektive wurde über alles erhoben. Es gibt von mir ein Gedicht mit dem Titel "Sie beeilen sich zu sterben", und das geht auch darum, dass bevor die Leute sterben, sie sich innerlich sozusagen bereits tot fühlen. Ich wurde auf gewisse Weise zu ihrer Stimme. Und wenn ich mich bestätigt fand, dass meine Metaphern angekommen sind, ab da nahm ich das dann auch ernster, das Schreiben.
von Billerbeck: Albanisch ist ja eine der ältesten Sprachen Europas, doch die vielen Dialekte, die es gab, die wurden, so hab ich das gelesen, unter Enver Hoxha Jahrzehnte lang in ein Korsett gepresst; das heißt, die Albaner lernten Parteitagsreden auswendig aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Welche Folgen hatte das für die bis dahin ja so üppige albanische Sprache?
Lleshanaku: Ich bin beeindruckt davon, wie informiert Sie über die albanische Sprache sind, denn die albanische Sprache war ja wirklich in der Tat sehr eingeschränkt unter der Diktatur. Es war ja so, dass der Dialekt, den der Diktator sprach, plötzlich aus allen anderen Dialekten herausgehoben wurde und zur offiziellen Landessprache gemacht wurde, ungeachtet davon, was ein anderer Dialekt vielleicht gebildeter gewesen wäre.
Aber die andere Ebene, die Sie ansprechen und die vielleicht auch hier wichtiger ist, ist: Wie schädigte diese Ideologie die Poesie, das Schreiben, die Literatur, welche Einflüsse machten sich da bemerkbar? Da denkt man natürlich dann auch an Russland, die Prozesse, die da abgelaufen, dieses naiv-romantische Bild, das entstanden ist in der Poesie. Diese gefälschte albanische Realität, die dargestellt werden musste, dieser falsche Optimismus, der zur Schau gestellt werden musste, brachte dem Leser sozusagen zwanghaft die Ideologie des Staates nahe. Und statt das Gegenteil, statt die Realität zu zeigen, war der Dichter sozusagen innerhalb der Zensur gezwungen, dem Leser diese schöne heile Welt vorzuspielen.
Man musste praktisch mit jeder Metapher, die man verwandt, vorsichtig sein – welche Schichten spreche ich an, welche Lagen könnten wie interpretiert werden. Spricht man von der eigenen Persönlichkeit als einer öffentlichen, einer offiziellen Persönlichkeit? Welche wird wahrgenommen? Man ist nicht man selber, man ist sozusagen eine Persönlichkeit ohne Persönlichkeit. Man hat der neue kommunistische Mensch zu sein und vor allem, was auch sehr wichtig ist, gemeinschaftlich orientiert, gesellschaftsfähig in dem Sinne, dass man sich nicht außerhalb der Gruppe stellte. Denn wenn das passierte, hatte man sofort den Geheimdienst auf den Versen, wenn man sich außerhalb der Gemeinschaft stellte. Und diese Form der ideologischen Unterdrückung hatte natürlich harte Konsequenzen für die Kreativität – die war wirklich sehr eingeschränkt.
von Billerbeck: Da die meisten Hörer Sie ja vielleicht noch nicht kennen, es sei denn, sie haben Ihren in Österreich erschienen Gedichtband gelesen, Luljeta Lleshanaku, vielleicht, damit unsere Hörer einen Eindruck bekommen, lesen Sie uns doch bitte ein Gedicht vor. Ich hab mir eins ausgesucht, nämlich "Das Geheimnis der Gebete" heißt das auf Deutsch, vielleicht können Sie uns das lesen.
Lleshanaku: (liest auf Albanisch ...) Ich gebe mal nur eine ganz kurze Einführung zu dem Gedicht. Es geht darum, dass in Albanien das Praktizieren der Religion komplett verboten war, und meine Mutter betete zum Beispiel vor dem Schlafengehen immer erst dann, wenn sie dachte, dass wir Kinder schon schliefen. Sie tat dies unter einer Decke – es war auch kalt, aber der Grund war, dass sie nicht dabei entdeckt werden wollte. Und das lag nicht nur daran, dass die Religion verboten war, sondern auch, dass die Menschen sich damals vom Rest der Welt wirklich verlassen fühlten. Was war Albanien? Sie fühlten sich selbst von Gott verlassen.
Es war Grundlage des Systems, dass Frauen wie Männer keine Schwäche zeigen durften, noch nicht mal vor den eigenen Kindern, und Beten wurde als Schwäche betrachtet. Und es war so unmöglich, das in der Öffentlichkeit zu tun, wie man in der Öffentlichkeit nicht Liebe gemacht hat. Und diesem Volk wird dann die lange, kalte Nacht des Körpers …
von Billerbeck: In meiner Familie wurde versteckt gebetet, war der Anfang dieses Gedichts. Wenn Sie heute darüber nachdenken, wie wichtig ist in Albanien und für Sie heute das Thema Religion?
Lleshanaku: Ich fühlte mich in der Tat ein wenig schuldig, dass ich das erste Mal in meinem Leben mit 33 oder 34 Jahren überhaupt eine Bibel in die Hand genommen habe und darin gelesen habe oder einen Koran. Und ich denke, besonders für Leute mit schwierigen persönlichen Erfahrungen ist es wichtig, so etwas zu haben. Diese brauchen mehr als andere eine Religion oder ein System des Glaubens, ein Vertrauen, ein Grundvertrauen. Und ich denke, dass es kaum ein psychologischeres und ein komplexeres Buch gibt als die Bibel.
Und dass sich die Menschen 50 Jahre lang unter der Diktatur gefühlt haben, als seien sie selbst von Gott verlassen worden, das ist ein ganz wichtiger Faktor. Und dieser Mangel an Vertrauen, ich denke, man kann sagen, er deformiert richtiggehend die Perspektive der Menschen und die Moral des ganzen Landes. Also die Religion bietet vor allem eine psychologische Unterstützung, und das besonders in isolierten Ländern wie Albanien.
von Billerbeck: Das sagt die albanische Lyrikerin und Übersetzerin Luljeta Lleshanaku. Sie ist derzeit beim Berliner Poesiefestival zu Gast, und vorher war sie bei uns. Danke für das Gespräch, das Mareile Amir übersetzt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Seit 1993, als ihr erster Gedichtband erschien, macht sie das umso mehr. Sie war Chefredakteurin des Magazins "Stimme der Jugend", als Autorin für "Drita" tätig, dem bedeutendsten Literaturmagazin Albaniens, und heute auch als Mitarbeiterin der Zeitung "Rlindja". Gedichtbände sind fünf von ihr erschienen, und in den USA wurden 2002 ihre Gedichte veröffentlicht unter dem Titel "Fresco: Selected Poetry". Beim Poesiefestival liest sie ihre Gedichte und spricht auch darüber, und jetzt ist sie bei uns. Herzlich willkommen, Luljeta Lleshanaku!
Luljeta Lleshanaku: Thank you, you invited me!
von Billerbeck: Sie gelten als eine der wichtigsten Stimmen der albanischen Lyrik – hat die eingeschränkte Lage, in der Sie und Ihre Familie unter Hoxha gezwungen waren zu leben, dazu geführt, dass Sie das, was da drinnen, in Ihnen stattfand, aufschreiben mussten?
Lleshanaku: Ja, ich gehöre einer Familie an, die unter der Diktatur sehr gelitten hat, die eingesperrt war, unter Arrest stand und in 40 Jahren einiges durchgemacht hat. Und wie Sie sagten, habe ich sehr jung angefangen zu schreiben, aber erst nach dem politischen Wechsel war es mir möglich, mein Geschriebenes auch zu publizieren, zu veröffentlichen. Unter dem kommunistischen Regime war mir das verwehrt geblieben davor.
Es stimmt auch, dass meine Familiengeschichte ein sehr wichtiger Teil meiner Poesie ist. Das ist eine Geschichte, die ich auch in meinem Leben, in meiner schriftlichen Darstellung bezeugen möchte. Und es betrifft ja fast drei Generationen, die immer unter diesen Einschränkungen leben mussten. Und meine Aufgabe ist es auch, dies zu zeigen, dies darzustellen, meine Familiengeschichte.
Andererseits gibt es auch ganz persönliche Prozesse, über die ich schreibe, die mir wichtig sind. Und obwohl ich ja, wie immer wieder auch vom Feuilleton und sonst wo bemerkt wird, zu einer sehr politischen Familie gehöre, ist meine Poesie an und für sich überhaupt nicht politisch. Ich wollte sozusagen etwas schaffen, das über die Geschichte meiner Familie auch hinausgeht, über die Religion und all diese Themen hinausgeht, ich wollte ein größeres Publikum erreichen. Wenn man zum Beispiel meine eigenen Töchter nimmt, die haben eigentlich gar keine genaue Vorstellung davon, was das Leben unter Hoxha bedeutet hat. Und auch diese Generation möchte ich ansprechen.
von Billerbeck: Nun hätten Sie aber auch Politikerin werden können mit so einer Familiengeschichte – wann war Ihnen klar, dass Lyrik, dass Sprache Ihre Welt ist?
Lleshanaku: Ich war mir nicht wirklich bewusst bis in die späten 80er-Jahre, dass das meine bestimmte, meine beste Kommunikationsform ist, und ich habe mit elf Jahren angefangen zu schreiben, das war eine Folge davon, dass ich schon als Kind immer sehr viel gelesen habe. Und etwas, das mich auch motiviert hat, war, dass ich meine Eltern alt werden sehen habe und sie diese große Verzweiflung in sich hatten, dass ihnen irgendwie klar war, dass sie gar keine Spuren hinterlassen würden von ihrer eigenen Existenz. Die Frage, die sich stellte: Lebten sie wirklich hier, haben sie wirklich hier existiert?
Es muss man so sehen, dass unter der Diktatur keine Individualität gefördert wurde. Individualismus fand sozusagen gar nicht statt in diesem totalitären System. Die Ideologie wollte Unterschiede sozusagen eindampfen. Das Kollektive wurde über alles erhoben. Es gibt von mir ein Gedicht mit dem Titel "Sie beeilen sich zu sterben", und das geht auch darum, dass bevor die Leute sterben, sie sich innerlich sozusagen bereits tot fühlen. Ich wurde auf gewisse Weise zu ihrer Stimme. Und wenn ich mich bestätigt fand, dass meine Metaphern angekommen sind, ab da nahm ich das dann auch ernster, das Schreiben.
von Billerbeck: Albanisch ist ja eine der ältesten Sprachen Europas, doch die vielen Dialekte, die es gab, die wurden, so hab ich das gelesen, unter Enver Hoxha Jahrzehnte lang in ein Korsett gepresst; das heißt, die Albaner lernten Parteitagsreden auswendig aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Welche Folgen hatte das für die bis dahin ja so üppige albanische Sprache?
Lleshanaku: Ich bin beeindruckt davon, wie informiert Sie über die albanische Sprache sind, denn die albanische Sprache war ja wirklich in der Tat sehr eingeschränkt unter der Diktatur. Es war ja so, dass der Dialekt, den der Diktator sprach, plötzlich aus allen anderen Dialekten herausgehoben wurde und zur offiziellen Landessprache gemacht wurde, ungeachtet davon, was ein anderer Dialekt vielleicht gebildeter gewesen wäre.
Aber die andere Ebene, die Sie ansprechen und die vielleicht auch hier wichtiger ist, ist: Wie schädigte diese Ideologie die Poesie, das Schreiben, die Literatur, welche Einflüsse machten sich da bemerkbar? Da denkt man natürlich dann auch an Russland, die Prozesse, die da abgelaufen, dieses naiv-romantische Bild, das entstanden ist in der Poesie. Diese gefälschte albanische Realität, die dargestellt werden musste, dieser falsche Optimismus, der zur Schau gestellt werden musste, brachte dem Leser sozusagen zwanghaft die Ideologie des Staates nahe. Und statt das Gegenteil, statt die Realität zu zeigen, war der Dichter sozusagen innerhalb der Zensur gezwungen, dem Leser diese schöne heile Welt vorzuspielen.
Man musste praktisch mit jeder Metapher, die man verwandt, vorsichtig sein – welche Schichten spreche ich an, welche Lagen könnten wie interpretiert werden. Spricht man von der eigenen Persönlichkeit als einer öffentlichen, einer offiziellen Persönlichkeit? Welche wird wahrgenommen? Man ist nicht man selber, man ist sozusagen eine Persönlichkeit ohne Persönlichkeit. Man hat der neue kommunistische Mensch zu sein und vor allem, was auch sehr wichtig ist, gemeinschaftlich orientiert, gesellschaftsfähig in dem Sinne, dass man sich nicht außerhalb der Gruppe stellte. Denn wenn das passierte, hatte man sofort den Geheimdienst auf den Versen, wenn man sich außerhalb der Gemeinschaft stellte. Und diese Form der ideologischen Unterdrückung hatte natürlich harte Konsequenzen für die Kreativität – die war wirklich sehr eingeschränkt.
von Billerbeck: Da die meisten Hörer Sie ja vielleicht noch nicht kennen, es sei denn, sie haben Ihren in Österreich erschienen Gedichtband gelesen, Luljeta Lleshanaku, vielleicht, damit unsere Hörer einen Eindruck bekommen, lesen Sie uns doch bitte ein Gedicht vor. Ich hab mir eins ausgesucht, nämlich "Das Geheimnis der Gebete" heißt das auf Deutsch, vielleicht können Sie uns das lesen.
Lleshanaku: (liest auf Albanisch ...) Ich gebe mal nur eine ganz kurze Einführung zu dem Gedicht. Es geht darum, dass in Albanien das Praktizieren der Religion komplett verboten war, und meine Mutter betete zum Beispiel vor dem Schlafengehen immer erst dann, wenn sie dachte, dass wir Kinder schon schliefen. Sie tat dies unter einer Decke – es war auch kalt, aber der Grund war, dass sie nicht dabei entdeckt werden wollte. Und das lag nicht nur daran, dass die Religion verboten war, sondern auch, dass die Menschen sich damals vom Rest der Welt wirklich verlassen fühlten. Was war Albanien? Sie fühlten sich selbst von Gott verlassen.
Es war Grundlage des Systems, dass Frauen wie Männer keine Schwäche zeigen durften, noch nicht mal vor den eigenen Kindern, und Beten wurde als Schwäche betrachtet. Und es war so unmöglich, das in der Öffentlichkeit zu tun, wie man in der Öffentlichkeit nicht Liebe gemacht hat. Und diesem Volk wird dann die lange, kalte Nacht des Körpers …
von Billerbeck: In meiner Familie wurde versteckt gebetet, war der Anfang dieses Gedichts. Wenn Sie heute darüber nachdenken, wie wichtig ist in Albanien und für Sie heute das Thema Religion?
Lleshanaku: Ich fühlte mich in der Tat ein wenig schuldig, dass ich das erste Mal in meinem Leben mit 33 oder 34 Jahren überhaupt eine Bibel in die Hand genommen habe und darin gelesen habe oder einen Koran. Und ich denke, besonders für Leute mit schwierigen persönlichen Erfahrungen ist es wichtig, so etwas zu haben. Diese brauchen mehr als andere eine Religion oder ein System des Glaubens, ein Vertrauen, ein Grundvertrauen. Und ich denke, dass es kaum ein psychologischeres und ein komplexeres Buch gibt als die Bibel.
Und dass sich die Menschen 50 Jahre lang unter der Diktatur gefühlt haben, als seien sie selbst von Gott verlassen worden, das ist ein ganz wichtiger Faktor. Und dieser Mangel an Vertrauen, ich denke, man kann sagen, er deformiert richtiggehend die Perspektive der Menschen und die Moral des ganzen Landes. Also die Religion bietet vor allem eine psychologische Unterstützung, und das besonders in isolierten Ländern wie Albanien.
von Billerbeck: Das sagt die albanische Lyrikerin und Übersetzerin Luljeta Lleshanaku. Sie ist derzeit beim Berliner Poesiefestival zu Gast, und vorher war sie bei uns. Danke für das Gespräch, das Mareile Amir übersetzt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.