"Mein Übertreiben ist nur eine andere Form der Sorge um die Zukunft"

Als "Patchwork"-Literatur bezeichnet Dubravka Ugresic ihre Texte. Sie oszillieren formal zwischen Essay, Anekdote, Erzählung und Kulturkritik. Im aufsässigen Witz und ihrem Gespür für Bizarres ist sie durchaus mit Kafka oder Gogol verwandt.
Geboren ist sie 1949 in Jugoslawien, studiert und unterrichtet hat sie am Institut für Literaturtheorie in Zagreb. 1993 verließ Dubravka Ugresic ihre Heimat. Sie ging nach Amsterdam ins Exil, Kriegstreiberei und nationaler Chauvinismus in den neuen, ex-jugoslawischen Teilrepubliken waren ihr zuwider. Von kroatischen Nationalisten wurde die bis dahin geachtete Literaturwissenschaftlerin und für ihre Erzählungen, Kurzgeschichten und Kinderbücher ausgezeichnete Autorin öffentlich beschimpft und bedroht, zur Hexe und Verräterin erklärt.

Als "Patchwork-Literatur" bezeichnet Dubravka Ugresic selbst ihre Pop und Hochkultur aufeinander beziehenden Texte. Sie sind von ästhetischen Experimenten der Moderne ebenso durchwirkt wie von postmoderner Theorie, oszillieren formal zwischen Essay, Anekdote, Erzählung und Kulturkritik. Im aufsässigen Witz, ihrem Gespür für Bizarres und der Fähigkeit Dummheit und Rohheit menschlichen Verhaltens anschaulich zu machen, ist die Autorin durchaus Kafka, Gogol oder Daniil Charms verwandt.

So schildert auch sie "Zwischenfälle", beispielsweise die Verwandlung der Minibar eines Hotelzimmers vom "Puppenhaus für erwachsene Männer" zu "einer Art totalitärem Granatsplitter", bevor die Autorin dann selbst verspricht, bei nächster Gelegenheit eine Minibar in die Luft zu jagen. In ihrem neuen Buch "Karaokekultur" deckt Ugresic das Absurde im Alltag auf, gibt ihm eine Wendung und tiefere Bedeutung. Humorvoll, selbstironisch, scharfsinnig, doch spürbar bedroht vom Zustand ihrer, nein, unser aller Lebenswelt. Ugresic ist eine Weltbürgerin, ihre Beobachtungen macht sie auf Bali, in Hongkong, London, Istanbul, New York oder Stockholm, beim Frisör, in der U-Bahn und im World Wide Web.

In fünf Kapiteln versammelt sie Essays aus den letzten fünf Jahren, von denen ein Teil bereits in Zeitungen erschienen ist. Sie setzt sich mit Käse aus Muttermilch (als guter Nebenverdienst in Zeiten der Rezession ) auseinander, analysiert - angeregt durch eine Parade von Hemingway Doppelgängern in Key West - die Metamorphose des serbischen Kriegsverbrechers Radovan Karadzic zum Clown und macht eine zunehmende "Empfindlichkeit" unter den Menschen aus - anhand der Selbstverbrennung des Tunesiers Mohamed Bouazizi. Wem das etwas zugespitzt vorkommt, dem versichert die Autorin glaubhaft: "Mein Übertreiben ist nur eine andere Form der Sorge um die Zukunft".

Deutlich spürbar ist diese auch im längsten, titelgebenden Essay des Buches. Harmlos beginnt er mit dem Besuch einer Amsterdamer Karaokebar, um dann auf den folgenden einhundert Seiten Karaoke (zu deutsch: leeres Orchester) zum Paradigma unserer Kultur zu erklären. Essentiell erscheint Dubravka Ugresic die Doppelrolle, in die ein Karaokesänger schlüpft: Verehrung eines Idols bei dessen gleichzeitiger Abwertung durch den eigenen stümperhaften Auftritt. Flucht vor sich selbst bei gleichzeitiger Egopflege. Untergrabung einer Werteskala durch souveränen Dilettantismus.

Karaoke-Menschen, "wannabes, Möchtegerne", macht Ugresic in allen Bereichen aus: in Literatur, Musik und Malerei, in der Politik, in den Medien, im Netz. Sie zeichnet das Porträt unserer Zeit als Nährboden hochentwickelter Barbaren. Dass die kapitalistische Gesellschaft inzwischen ebenso totalitäre Züge aufweist wie in der Vergangenheit real existierende sozialistische Gesellschaften, gehört zu den bitteren Einsichten des Buches. Und auch wenn die Autorin zugibt, mitunter widersprüchlich zu argumentieren, ist allein die Fülle ihrer Beispiele alarmierend - und höchst anregend.

Besprochen von Carsten Hueck

Dubravka Ugresic: Karaokekultur
Übersetzt von Mirjana und Klaus Wittmann sowie Angela Richter
Berlin Verlag, Berlin 2012
383 Seiten, 19,90 Euro
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