Mein Partner, ein Pflegefall

Wie Krankheit die Liebe verändert

32:57 Minuten
Eine ältere Frau in roter Jacke und grauem Rock schiebt einen Rollstuhl, in dem ihr Ehemann mit Mütze und blauer Jacke sitzt, über eine Wiese.
Die Liebe wird durch Krankheit oder Pflegebedürftigkeit eines Partners häufig auf die Probe gestellt. © imago / Westend 61
Von Susanne Hoffmann · 16.12.2019
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In guten wie in schlechten Tagen, heißt es. Doch was passiert, wenn der Partner plötzlich zum Pflegefall wird? Wie verändert sich eine Ehe, wenn die Demenz den Partner Stück für Stück verschwinden lässt? Und wie bedingungslos muss Liebe sein?
"Ich weiß nicht, was in Situationen kommen wird, wenn du sehr hilflos werden solltest. Vor der Situation hab ich Angst. Wenn ich in eine Situation kommen sollte, dass ich nicht mehr ausreichend helfen kann. Davor hab ich Angst."
Dezember 2018. Martina Rosenbaum muss ihrem Mann August-Wilhelm oft helfen. Doch geht es nicht darum, ihn zu waschen oder ihm körperlich zu helfen. Sie muss für ihn mitdenken.
"Wie alt bin ich denn jetzt?", fragt er. "Soll ich es dir verraten?", fragt sie zurück. - "Ja, sag mal."
Martina Rosenbaum sitzt mit ihrem Mann auf dem weißen Ledersofa im Wohnzimmer. Er ist 68 Jahre alt. Gemerkt haben sie zum ersten Mal etwas vor rund fünf Jahren, dann vor gut zwei Jahren die Diagnose Demenz. Immer mehr Dinge im Alltag werden für August-Wilhelm zur Herausforderung. Manchmal fehlen aber auch schlicht die Worte. Es ist ein schleichender Prozess, der die etablierten Rollen des Ehepaars durcheinanderbringt.
"Mein Mann ist jemand, der mir immer gern geholfen hat", erklärt Martina Rosenbaum. "Das ist die Veränderung. Dass sich die Rollen da umgedreht haben. Und dass das jetzt so eine asymmetrische Verschiebung gekriegt hat. Das ist, glaube ich, für beide schwierig, aber für August viel, viel schwieriger. Wenn ich mich aufgeregt habe oder andere sich aufgeregt haben, warst du immer die Ruhe in Person und der Fels in der Brandung. Du wusstest immer, wo links und rechts und oben und unten ist. Und genau die Veränderung ist jetzt katastrophal."

Die Liebe wird nicht weniger, aber anders

Jetzt gibt Martina Rosenbaum die Richtung vor. Die 67-Jährige handelt und entscheidet für beide – sich und ihren Ehemann. Ihr Beruf als Psychotherapeutin hilft ihr, mit der Situation umzugehen. Manchmal therapiert sie sich selbst. Die Beziehung zwischen ihr und ihrem Ehemann wird zum Analyseobjekt. Wie hat sich die Liebe verändert?
"Sie ist anders geworden. Sie ist quantitativ überhaupt nicht kleiner, sie ist qualitativ eine andere", sagt sie. "Da sind viel mehr Aspekte von Fürsorge drin, wo früher Liebe sehr stark von Gegenseitigkeit im Geben und Nehmen geprägt war. Es ist jetzt eine andere Form von Zusammensein. Und ich genieße es unglaublich, dass bestimmte Aspekte aber dennoch noch möglich sind. Wenn ich zum Beispiel völlig am Boden bin, dann kann ich mir bei meinem Mann eine Umarmung abholen, die mich wirklich sehr stärkt und wo ich nicht das Gefühl habe, dass mir ein Kleinerer was gibt. Der Körper erinnert sich länger. Geht dir das auch so, wenn wir uns in den Arm nehmen, dass noch mehr von dem Alten da ist?"
"Aber auch von Neuem", sagt ihr Mann.
"Auch von Neuem", bestätigt Martina Rosenbaum. "Du bist irgendwie zarter geworden."
"Das wollte ich aber nicht", sagt er. Und sie: "Ich wollte ja auch nicht dicker werden."

Locked-In - gefangen im eigenen Körper

Eddie hustet. "Keine Angst", sagt Gertrud Goll. "Keine Angst. Ne, Eddie." Beruhigend spricht sie auf ihren Lebensgefährten ein. Edelbert Coenen – ihr Eddie – liegt im Bett. Die Geräusche, die das Zimmer füllen, stammen aus der Trachealkanüle in seinem Hals.
"Du darfst mich ruhig angucken, Schatz. Dass der Schleim rauskommt, ne." Mit einem Katheter saugt Gertrud Goll Schleim aus Eddies Atemwegen. "Und noch einmal, ja? Nein nicht mehr."
Eddie blinzelt zwei Mal. Seine Worte für 'Nein, es reicht.' Sagen kann er das nicht mehr. Seinen Kopf schütteln auch nicht. Eddie hat das Locked-In-Syndrom. Sein Körper ist fast vollständig gelähmt. Sein Verstand bei vollem Bewusstsein. Er ist gefangen in seinem eigenen Körper.

Hören Sie zum Thema auch das Interview mit Helga Schneider-Schelte von der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft. In unserer Sendung "Studio 9" vom 16.12.2019 sprach sie über den Umgang mit Gefühlen von Schuld und Entfremdung, die auftreten können, wenn ein Partner krank oder pflegebedürftig wird: Audio Player

Es ist ein Tag im März 2006, der die ganze Welt von Gertrud Goll und ihrem Lebensgefährten Eddie auf den Kopf stellt. Er ist damals 46, bricht zusammen und fällt. Hirnblutung.
"Also, seelisch ist man ganz am Boden", sagt Gertrud Goll. "Die ersten drei Jahre – gar nichts. Da hab ich einfach nur funktioniert. Zur Arbeit, nach Hause kommen, zu ihm hin. Hab mich dann hier immer geborgener gefühlt, immer mehr bei ihm da sein zu dürfen. Ich denke, das hat er auch gemerkt."
13 Jahre ist Eddie nun locked-in. Gertrud Goll hat gelernt, mit ihm zu sprechen und die Zeichen seines Körpers zu verstehen. Der 58-Jährige lebt heute in einer Pflegeeinrichtung in der Nähe von Düsseldorf. Er braucht so viel Pflege und Betreuung, dass sie nie wieder zusammenwohnen werden.

Die meisten Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt

Eddie Coenen und August-Wilhelm Rosenbaum sind zwei von mehr als 3,6 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland. Obwohl immer mehr Menschen Pflege brauchen, ist das Thema nach wie vor tabuisiert. Pflegebedürftigkeit passe nicht in unsere Leistungsgesellschaft, sagt Erika Feldhaus-Plumin:
"Wir Menschen glauben, dass wir selbstbestimmt entscheiden könnten in unserer Gesellschaft und eigenständig sind und die Kontrolle über unser Leben hätten. Und das geht damit verloren. Und hat mit Gefühlen wie Hilflosigkeit und Ohnmacht zutun. Und hat damit zu tun, dass wir uns dann eben abhängig fühlen, dass wir denken, wir könnten nicht mehr selbstbestimmt leben. Das sind alles Dinge, die wollen wir eigentlich nicht haben in unserer Gesellschaft. Und im eigenen Leben erst recht nicht."
Die Hände zweier älterer Menschen liegen ineinander.
Eine Demenzerkrankung verändert alles, auch die bisherige Rollenverteilung in der Partnerschaft.© imago / Westend61
Feldhaus-Plumin ist Professorin im Studiengang Bachelor of Nursing an der Evangelischen Hochschule Berlin, in dem Krankenpfleger ausgebildet werden. Sie forscht unter anderem dazu, wie sich Pflegebedürftigkeit auf Paarbeziehungen auswirkt. Die meisten Pflegebedürftigen werden zuhause gepflegt von Angehörigen oder ambulanten Diensten. Nur rund 20 Prozent sind in Pflegeheimen untergebracht – so wie Eddie. Seinen Partner in eine Pflegeeinrichtung zu geben, ist für viele kaum vorstellbar. Denn dadurch verändere sich das gesamte Leben des Paars, erklärt Feldhaus-Plumin.
"Kein gemeinsames Aufstehen, kein gemeinsames Ins-Bett-Gehen. Diese ganz kleinen alltäglichen Dinge, dieses ganze Gemeinsame geht ein Stück weit verloren, indem ich in eine Pflegeeinrichtung als Gast, als Besucherin komme. Und selbst wenn ich jeden Tag komme, gehe ich jeden Abend nach Hause und lasse meinen Partner in der Pflegeeinrichtung."

55 Kilo bei einer Größe von 1,83 Meter

"Ich klaue dir eine." Der fünfjährige Leon klaut eine Nudel vom Teller seines Papas. "Das gibt's ja gar nicht." Mama lacht. "Schmeckt die besser vom Papa?"
Eine ganz normale junge Familie beim Mittagessen. So jedenfalls wirkt es auf den ersten Blick. Doch Daniel Pahn bleibt nur noch wenig Zeit mit seiner Frau Katrin und Sohn Leon. Jede Woche rückt er dem Tod ein Stück näher. Sein Körper zeigt es: Noch wiegt er 55 Kilo bei einer Größe von 1,83m.
Die erste Diagnose kommt Ende 2017: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Es folgen mehrere Operationen und eine extrem starke Chemotherapie. Im August 2018 wird Daniel Pahn für gesund erklärt – es gibt Hoffnung für die junge Familie. Doch dann der Schock. Im März dieses Jahres teilen die Ärzte ihm und seiner Frau mit, dass er sterben wird. Der Krebs ist wieder da und breitet sich im ganzen Körper aus.
"Ich kann das echt nicht in Worte fassen. So ein tiefes Loch. Ja. Hilflos", sagt Daniel Pahn. "Man guckt sich an und kann nichts sagen. Tränen sind geflossen ohne Ende. Gedanken sind natürlich: Was wird aus dem Kleinen? Du erlebst halt nicht mehr, wie dein eigener Sohn aufwächst. Das ist das, was mich am meisten traurig macht. Muss ich ganz ehrlich sagen."
Katrin und Daniel Pahn mit ihrem Sohn Leon.
Katrin und Daniel Pahn mit ihrem Sohn Leon.© privat
Als klar wird, dass er dieses Mal keine Chance gegen den Krebs hat, weiß Daniel: Er will sich nicht mehr im Krankenhaus behandeln lassen. Von der kurzen Zeit, die ihm bleibt, möchte er so viel wie möglich mit seiner Familie verbringen. Am liebsten würde er noch irgendwie die Einschulung von Sohn Leon im nächsten Jahr erleben. Folgt man den Prognosen seiner Ärzte, wäre das ein kleines Wunder.
"Kommst du mal eben her. Ich möchte dich mal eben was fragen", sagt Daniel. "Findest du das denn gut, dass Papa nicht mehr ins Krankenhaus muss?" – "Jap." – "Ist besser, ne? Haben wir viel mehr Zeit." – "Ja, kannst du wieder viel mit mir viel spielen." – "Genau."
Daniel Pahn ist 30 Jahre jung, seine Frau Katrin ist 29. Während andere Paare in ihrem Alter über Eigenheim oder Karriere nachdenken, müssen sie die Beerdigung planen.
"Man muss irgendwo locker damit umgehen", sagt Daniel. "Ich war schon immer so 'n lustiger Typ und hatte immer flotte Sprüche drauf, und das lass ich mir in der letzten Zeit auch nicht nehmen. Ich möchte einfach so in Erinnerung bleiben. Ich möchte nicht, dass irgendwie gesagt wird, der hat sich die letzte Zeit so verändert. Nein, ich möchte, dass gesagt wird, der hat seinen Humor nie verloren."

Der Demenz nicht das Feld überlassen

"Ich akzeptier das bis heute nicht. Weil ich ein anderes Leben habe als vorher", sagt August-Wilhelm Rosenbaum auf die Frage, ob er lange gebraucht habe, die Diagnose zu akzeptieren, und beginnt zuz weinen. "Vor allem ein viel weniger selbstbestimmtes Leben. Schlimmster Aspekt", sagt seine Frau. "Wenn du eins nicht leiden konntest, dann, wenn dir jemand gesagt hat, was du tun sollst."
Lange versucht August-Wilhelm Rosenbaum, die Demenz zu verbergen. Er meistert seine letzten Berufsjahre als Sozialarbeiter so, dass kaum jemand etwas merkt. Mit großer Überwindung lässt er danach diagnostizieren, was er innerlich schon ahnt. Die Veränderungen sind gravierend. Und Martina Rosenbaum weiß: Die Zukunft ist ungewiss. Welchen Verlauf nimmt die Krankheit? Wie schnell wird die Demenz fortschreiten? Was bleibt von ihrem Mann übrig?
"Wenn ich in eine Situation kommen sollte, dass ich nicht mehr ausreichend helfen kann, davor hab ich Angst", sagt sie mit zittriger Stimme. Martina Rosenbaum will der Demenz ihres Mannes nicht das Feld überlassen. Wenn sie schon nicht verhindern kann, dass er sich durch die Krankheit verändert, dann will sie zumindest die Lebensumstände selbst bestimmen:
"Ich frage mich natürlich auch, wie kann ich gut bei meinem Mann bleiben, ohne so sauer oder verzweifelt zu werden, dass ich Lust kriegen würde wegzugehen? Das heißt, ich gestalte die Lebensumstände so, dass das so bleibt, dass ich gern bei meinem Mann bleibe. Dann kann das ruhig ein bisschen ungewöhnlicher sein, denke ich."
In anderthalb Jahren will Martina Rosenbaum ihre Praxis als Psychotherapeutin schließen und das Haus in Bochum verkaufen. Der Plan ist eine neue Wohnung in einem kleinen Ort an der Ostsee. Ihre Vorstellung: Gemeinsam unter Leuten sein, in die Natur gucken und zusammen Zeit verbringen.

Hilfe anzunehmen fällt oft schwer

Mit Ende 20 das Ende des Lebens zu planen, vor dieser Aufgabe stehen Daniel und Katrin Pahn. Weil ihr Mann Krebs hat, ist die 29-jährige Katrin nicht nur Ehefrau und Mutter, sondern auch Pflegekraft. Die Chemo war für Daniel Pahn so heftig, dass er bei den einfachsten Dingen Hilfe brauchte.
"Toilette war schon halt heftig", sagt sie. "Aber ich hab gesagt, er braucht die Hilfe und ich werde das mitmachen. Ich würde es auch weiterhin machen, weil er mich braucht. Und da hab ich gesagt, da hab ich keine Probleme damit, ihm in allem zu helfen."
Es falle ihm "ganz schwer", diese Hilfe anzunehmen, sagt Daniel. "Ich war immer der Mensch, der anderen helfen möchte. Dass es jetzt so kommt, dass man selbst auf Hilfe angewiesen ist, das ist 'ne ganz, ganz krasse Umstellung."
Beide wissen, der heftigste Part steht ihnen noch bevor. Vielleicht schon bald wird Katrin Pahn ihren Mann rund um die Uhr pflegen müssen. Sie hat Angst davor, ihn beim Sterben zu begleiten. Und sie kämpft gegen Depressionen. Dass sie mit Sohn Leon übrigbleiben wird, kann und will sie kaum begreifen:
"Ich liege andauernd wach und grüble: Wie wird das Leben danach? Um was musst du dich kümmern? Wie wird das jetzt noch? Wie geht es dem Kleinen dabei? Dann brauch ich meine Auszeit, dann nehme den Hund halt und gehe raus aufs Feld. Dann hab ich zwischendurch die Momente, da laufen nur die Tränen. Ich versuche es zwischendurch zu verstecken, aber es geht nicht immer. Weil man gerade für Mann und Kind stark sein möchte und will. Weil man in dem Moment die einzige ist, die alles stemmen muss."

Vor allem von Frauen wird Pflege erwartet

Auch Martina Rosenbaum will ihren Mann so gut unterstützen, wie es geht. An Arbeitstagen schaut sie jede Stunde kurz nach ihm. Ihre eigene Psychotherapie-Praxis liegt im gleichen Haus. Zusätzlich hat sie mehrere Hilfen eingestellt, die ihr bei der Bürokratie und im Haushalt unter die Arme greifen. So ist auch ihr Mann weniger allein. Nach der Diagnose sofort ihre Arbeit für die Pflege aufzugeben – das kam für sie erstmal nicht in Frage:
"Ich habe mich schon zum Beispiel mal gefragt, wie ist die Bewertung von Leuten, die mich weiterarbeiten sehen und die sagen: 'Mein Gott, was ist das für eine Frau! Warum kümmert die sich nicht um ihren Mann? Wieso holt sie sich Personal ins Haus? Das könnte sie doch selber tun.' Nein, dann würde ich nicht mehr zufrieden mein Leben leben. Ich würde die Dinge vernachlässigen, die mir was wert sind. Und das ist sowohl meine Arbeit wie auch meine Liebe zu meinem Mann. Und das versuche ich, in ein Gleichgewicht zu kriegen."
August-Wilhelm und Martina Rosenbaum.
August-Wilhelm und Martina Rosenbaum.© privat
Nicht jeder versteht, dass Martina Rosenbaum weiter arbeitet. Sie entspreche dabei nicht den gesellschaftlichen Erwartungen, erklärt die Professorin Erika Feldhaus-Plumin:
"Das ist ja ein ganz altes tradiertes Bild. Und ich glaube, das sind noch Vorstellungen, die darin stark verankert sind, dass die Frau ihren Beruf beispielsweise aufgibt, um für den Mann da zu sein und den Mann zu versorgen."
Martina Rosenbaum versucht, ihren Mann möglichst viel einzubeziehen. Zu Terminen nimmt sie ihn oft mit, im sozialen Kontakt mit Fremden verbirgt ihr Mann seine Erkrankung hinter einem Lächeln. Über ihre Situation zu sprechen, fällt ihr nicht immer leicht. Und das, obwohl sie ihre Erfahrungen eigentlich gern teilen will:
"Man muss aufpassen, dass man sich nicht schämt dafür, dass es ist, wie es ist. Also schämen für die ganzen inneren Konflikte, in denen man steckt und die man auch nicht so toll findet."

Nach vorne schauen, nicht zurück

Getrud Goll schiebt einen Rollstuhl durch das Pflegeheim nach draußen. Darin sitzt der Mann, der durch das Locked-In-Syndrom in seinem eigenen Körper eingeschlossen ist. Sie hat das Schicksal akzeptiert. Aus dem Ausnahmezustand ist Normalität geworden:
"Man hat mir auch viel gesagt, warum machst du das denn und du könntest so viele andere Männer haben. Ich sag, habt ihr eigentlich nur die eine Sache im Kopf? Ich kann mir genauso einen neuen Mann nehmen, dem kann genau das gleiche Schicksal passieren."
Mehr als 20 Jahre wohnt das Paar vor dem Unfall zusammen. Viel Zeit für gemeinsame Erinnerungen. Doch alte Fotos zeigt Gertrud Goll ihrem Eddie bewusst nicht.
"Ich zeig ihm wohl Fotos, was wir jetzt alles machen", erklärt sie. "Das ist wichtig. Weil, es geht ja weiter. Wir müssen nach vorne gucken und nicht zurück. Die Menschen gehen immer in die Vergangenheit zurück. Ich finde das schlimm."

"Ich hab gesagt, das schaffen wir zusammen"

Der fünfjährige Leon prescht auf seinem Laufrad den Feldweg hinter dem Haus der Pahns entlang. Hund Leo trottet hinterher. Der Schäferhund-Mischling hat Arthrose und ist trotzdem schneller als sein Herrchen. Denn mit seinen schmerzenden Knochen kann Daniel Pahn nur langsam laufen.
"Man möchte zwar immer mehr, aber du wirst immer erinnert, dass du nicht kannst", sagt er. "Und das ist eigentlich das Traurige, was ich immer sehe. Weil ich immer denke, du bist grad mal 30 und wirklich ein absoluter Pflegefall. Das zieht einen schon mal was runter."
Vor Kurzem hat Katrin Pahn ihren Arbeitsvertrag bewusst nicht verlängert. Dafür ist die Zeit mit ihrem Mann zu kostbar geworden. Ihn auf diesem Weg allein zu lassen, kam für sie nie in Frage.
"Man weiß ja irgendwo, was auf einen zukommt", so Daniel. "Und sie hat wirklich ohne zu zögern, also nicht mal eine Millisekunde, sie hat sofort ja gesagt. Und das war für mich der größte Liebesbeweis, den ich in den letzten sieben Jahren von ihr bekommen habe. Man stellt sich ein Leben natürlich anders vor in dem Alter. Und ich muss auch ganz ehrlich sagen, wenn ich die Unterstützung in den letzten zwei Jahren nicht gehabt hätte, würde ich heute hier nicht mehr sitzen."
"Ich hab' gesagt: Ich hab ihm geschworen 'Durch dick und dünn, in guten wie in schweren Zeiten', ergänzt Katrin. "Ich hab gesagt, das schaffen wir zusammen. Ich unterstütze dich da, wo es halt geht."

Viel Arbeit und viel Traurigkeit

Oktober 2019. Ein Dreivierteljahr nach dem ersten Treffen mit den Rosenbaums. Martina Rosenbaum und ihr demenzkranker Mann August-Wilhelm sitzen wieder nebeneinander auf dem weißen Ledersofa. Optisch hat sich nicht viel verändert. Aber die Stimmung ist eine andere.
"Also im Moment ist eher eine harte Zeit, finde ich", sagt Martina Rosenbaum. "Wie findest du das?" "Genauso", meint ihr Mann. Was empfindet er derzeit besonders als schwierig?
"Meine Frau hat... ist sehr – wie soll ich das sagen – wie soll ich das sagen? Ich finde die Worte nicht." - "Sag mal die Richtung", hilft Martina Rosenbaum. "Dass ich zu hart bin? Zu fordernd? " - "Ja, zu fordernd."
August-Wilhelms Zustand hat sich verschlechtert. Er findet immer seltener die Worte, kann Gesprächen nicht mehr folgen. Während sie die Krankheit vorher gemeinsam angegangen sind, scheinen sie sich jetzt manchmal auch gegenseitig anzugreifen.
"Also, mein Mann erlebt sich oft noch so, als wäre nichts anders", erklärt sie. "Und ich erlebe es oft so, dass es dramatisch anders ist. Und das so irgendwie zusammenzukriegen, dass man die Schnittfläche findet, wo sich überlappt und man sich gut treffen kann. Das ist…" "Das ist so, dass ich merke, dass, mmh... Hab schon wieder den…", stammelt August-Wilhelm. "Es ist schade. Weißt du noch, was du sagen wolltest?" – "Du bist manchmal zu schnell, dass du…, dass ich..."
"Ja, das stimmt", räumt Martina Rosenbaum ein. "Ich bin zu schnell. Da hast du wirklich verdammt recht. Und ich bemühe mich dann auch, langsamer zu werden, aber das geht nur bis zu einer bestimmten Drehzahl. Sonst säuft bei mir der Motor ab. Ich kann nicht jemand ganz anders werden als der, der ich bin."
Martina Rosenbaum muss nun noch mehr Verantwortung übernehmen als vorher. Gleichzeitig fordert er mehr Zeit mit ihr ein. Macht ihr Vorwürfe, wenn sie abends nicht nur neben ihm auf dem Sofa sitzen möchte, sondern zwischendurch noch mit anderen telefoniert oder schreibt. Wenn sie ein Problem besprechen, hat August-Wilhelm das Gespräch am nächsten Tag vergessen. Trotzdem zeigt er weiter, wie wichtig ihre Ehe für ihn ist:
"Wir sind auch beide immer noch so im Kern so liebevoll miteinander verbunden, dass wir uns beide immer wieder ganz viel Mühe geben, den Boden wiederherzustellen zusammen. Aber es ist eben auch für beide Seiten mit Arbeit und oft auch mit Traurigkeit und in der letzten Zeit auch mit viel Weinen allein oder gemeinsam verbunden. Einfach traurig. Aber tatsächlich kriegen wir es auch immer wieder ganz gut hin. Für dich auch, oder?"

Über Sexualität wird wenig gesprochen

Christa Matter kennt die Frustration von betroffenen Angehörigen wie Martina Rosenbaum. Als Leiterin der Alzheimer Gesellschaft Berlin weiß sie von den Herausforderungen für Paare, bei denen ein Partner an Demenz erkrankt ist. Seit Jahrzehnten betreut sie Angehörigengruppen.
"Es ist nicht mehr eine Beziehung auf Augenhöhe", sagt Matter. "Man kann nicht mehr Dinge miteinander teilen, und es ist unglaublich schwer, sowas lernen zu akzeptieren, dass das alles krankheitsbedingt ist. Und es ist unglaublich schwer zu verstehen, dass ich nicht mehr über die Geburt unserer Tochter reden kann miteinander oder über den schönen Urlaub und und und."
Matter erzählt, das Thema Liebe sei in den Gruppen immer präsent. Über Sexualität würden die Angehörigen dagegen gar nicht oder nur vage sprechen:
"Wir hatten damals einen Angehörigen, der sich vertrauensvoll an mich gewandt hat, weil er eine Frau kennengelernt hat. Und er wollte das so gern den anderen Angehörigen in der Gruppe mitteilen, dass er sich sozusagen neu verliebt hat. Die Frau, die er kennengelernt hat, die gab ihm einfach wieder auch Kraft. Das heißt, bis zum Tod seiner Frau hat er mit ihr zusammengelebt, er hat sich weiter um sie gekümmert und um sie gesorgt. Und auch die neue Frau hat ihn darin unterstützt."
Nach diesem Bekenntnis trauen sich nun auch die anderen Angehörigen, über das Thema zu sprechen. Am Ende veröffentlichen sie ihre Erfahrungen anonym in der Mitgliederzeitschrift der Alzheimer Gesellschaft.

Darf man den pflegebedürftigen Partner verlassen?

Allein der Gedanke, seinen kranken Partner ins Heim zu geben oder zu verlassen, ist für viele Angehörige ein Tabu. Dennoch schreibt eine Frau in ihrem Bericht: "Inzwischen bin ich von meinem Mann geschieden, er lebt bei seiner Familie. Denn auch das 'darf' man: eine Ehe beenden, die keine mehr ist – auch wenn der Partner schwer krank ist."
"Der Gedanke ist natürlich da", räumt Martina Rosenbaum ein. "Der taucht auf als kurze Überlegung. Und der wird mit größter Entschiedenheit verworfen! Das wäre... Das würde meinem Mann das Herz brechen. Dafür liebe ich ihn echt zu sehr. Das... nein, das nicht", sagt sie und weint.
Gleichzeitig sagt sie "ja, sehr" auf die Frage, ob sie sich in ihrer Lage einsam fühle. "Fühlen Sie sich einsam in Ihrer Lage? "Ich hab das lange nicht mehr so erlebt so, so einsam. Und er möchte so gerne das Gefühl bewahren, wir wären aber überhaupt nicht einsam, sondern gut und friedlich und in alter Frische im Kontakt. Und das ist eine Art der Verleugnung, die kann ich nicht mitmachen. Das kann ich nicht."
Im Urlaub auf Fuerteventura verschärft sich die Situation weiter. Martina Rosenbaum muss ständig auf ihren Mann August-Wilhelm aufpassen. Auf den zehn Metern zwischen Strandliege und Meer verläuft er sich.
Was ist das Gefühl, das es am besten beschreibt?
"Das ist Erschöpfung", sagt Martina Rosenbaum. "Vor allem in Verbindung damit, sich unendlich zu bemühen. So gut, wie ich kann irgendwie. Und es reicht nicht, um es gut zu machen, für uns beide gut zu machen."

"Ich war wirklich 24 Stunden bei ihm am Bett"

November 2019. Katrin Pahn holt ihren Sohn Leon im Kindergarten ab. Sie ist 29 Jahre alt und Witwe. Ihr krebskranker Mann Daniel, Leons Vater, ist im Juli verstorben. Nur zwei Monate nach dem ersten Treffen.
Im Urlaub in Ägypten geht plötzlich alles sehr schnell. Die Luftrettung bringt Daniel Pahn zurück nach Deutschland, kurz danach stirbt er in einem Hospiz. Seine Frau Katrin kann ihm den Wunsch, zuhause zu sterben, nicht erfüllen. So sehr sie es möchte: Die Pflege kann sie körperlich allein nicht mehr stemmen. Aber sie bleibt im Hospiz – Tag und Nacht.
"Ich war wirklich 24 Stunden bei ihm am Bett", sagt Katrin. "Und Donnerstag morgens ich bin wach geworden, weil Gewusel im Zimmer ist. Ich bin wachgeworden, und mein Mann ist in dem Moment eingeschlafen. Da war gerade Ende."
Zur Beerdigung kommen rund 200 Gäste, viele von ihnen tragen MSV-Duisburg-Trikots. Über dem Sarg liegt eine Fahne des Fußball-Vereins. Das hatte sich Daniel Pahn so gewünscht.

Im Sohn lebt ein Teil von Daniel weiter

Katrin Pahn und ihr Sohn Leon basteln gemeinsam Papierflieger. Mit seiner quirligen Art bringt der Fünfjährige seine Mutter immer wieder zum Lachen. Trotz der schweren Zeit.
"Dann guck mal." - "Der kann fliegen." - "Ja, Tatsache." - "Der kann richtig weit fliegen."
Im nächsten Sommer kommt Leon in die Schule. Der Moment, den Daniel Pahn noch so gern erlebt hätte.
"Da hab ich zu meinem Mann immer gesagt: Es lebt immer ein Teil von dir weiter bei mir. Ich muss nur unseren Sohn ansehen, sag ich, und da bist du immer. Der hat so viel von seinem Papa und das finde ich schön. Dass er da in ihm weiterlebt", sagt Katrin. "Das ist die Liebe meines Lebens. Und auch wenn in ein paar Jahren nochmal ein Mann kommt. Das ist niemals die Liebe, die ich mit meinem Mann hatte. Den wird und kann niemand ersetzen."
Das Leben geht weiter. Mittlerweile hat Katrin Pahn wieder angefangen zu arbeiten. Nächsten Monat wird die kleine Familie in eine neue Wohnung ziehen: In der alten sind einfach zu viele Erinnerungen.
"Viele verstehen das auch nicht, dass man in dem Sinne einen Neuanfang braucht", sagt Katrin. "Ja, es fehlt eine Person hier. Es geht dann nicht halt. Und dass viele mich fragen: Wie, du gehst wieder arbeiten? Ja, dann sag ich, auch wenn es so schwer ist, aber das Leben muss irgendwie weitergehen. Und mein Mann hätte auch nicht gewollt, dass ich den Kopf in den Sand stecke."
Gertrud Goll bringt ihren Eddie ins Bett. Den Mann, der in seinem Körper eingeschlossen ist. Sie legt seine Arme, Beine und den Kopf in die richtige Position. Eine zupackende Frau, die in ihrem neuen Alltag Sinn findet. So wie jetzt wird es bleiben. Die beiden gehören zusammen. Ein Tattoo auf Eddies Oberarm erinnert sie täglich daran. Zusammen mit einem schwarzen Herz steht dort:
"I love you, Gertrud." Ich liebe dich, Gertrud. "Das hat ja jeder gesehen im Krankenhaus, überall", sagt sie. Stechen ließ er sich das Tattoo, als er noch gesund war: "Da hab ich noch geschimpft. Da hab' ich gesagt: Hör mal, geht es noch? Du kannst dir das doch nicht stechen lassen. Stell dir vor, wir gehen auseinander. 'Wir gehen nicht auseinander.' Das war schon allein der springende Punkt, ihn jetzt nicht fallen zu lassen. Alleine, dass er mir das gesagt hat. Als er gesund war."

Die Demenz wirbelt alle Pläne durcheinander

Wenige Wochen nach dem Urlaub geht es wieder bergauf im Hause Rosenbaum. Anders als geplant wird Martina Rosenbaum nun doch noch weiterarbeiten. Denn die Bauarbeiten für das Haus an der Ostsee verzögern sich, und mittlerweile steht gar nicht mehr fest, wann oder sogar ob das Ehepaar dort hinziehen wird. Anstatt das Haus in Bochum zu verkaufen, wird es vielleicht die gemeinsame Tochter übernehmen. All ihre Pläne sind durcheinandergewirbelt. Auf eine gute Weise:
"Ich musste nochmal sehr denken an einen Satz meines Hausarztes, der mir sagte, gewöhnen Sie sich ab, wenn Sie mit Alzheimer zu tun haben bei ihrem Mann, irgendeinen Plan zu machen", sagt Martina Rosenbaum und lacht. "Damals hab ich das überhaupt nicht an mich rangelassen. Hab gedacht, nee, nee das mach ich schon auf meine Weise. Aber ich weiß, glaube ich, inzwischen, was er meint. Für mich übersetzt heißt das, sehr gut gucken, wo ist die Richtung, in die ich marschieren möchte. Und bin ich kreativ und flexibel genug, mich auf alles das, was auf diesem Weg neu und überraschend passiert, auch neu einzustellen?"
Was auch neu ist: Sie hat eine andere Psychotherapeutin kennengelernt, die sich in einer ganz ähnlichen Situation befindet. Endlich eine Gleichgesinnte, mit der sie sprechen und vielleicht sogar gemeinsame Pläne schmieden kann. Das Auf und Ab gehört für sie ab jetzt einfach dazu:
"Das ist schon so, dass mich die letzte Zeit gelehrt hat, dass es nicht ohne diese ganz heftigen Hochs und Tiefs und diese Wellenbewegungen darin geht. Dass man daraus aber auch – also ich jedenfalls – lernt, erstens darauf zu vertrauen, dass man schwimmen kann. Und zweitens, dass es Spaß macht zu schwimmen. Und ich bin immer gern geschwommen. Und darauf stell ich mich jetzt ein. Ich nehme diese Krankheit sehr ernst, aber ich nehme auch dieses Leben mit der Krankheit mittendrin sehr ernst. Und ich finde, sie muss da eingebettet sein und nicht, sie darf es beherrschen."

Mitwirkende
Regie: Roman Neumann
Technik: Martin Eichberg
Sprecherin: Eva Meckbach
Redaktion: Carsten Burtke

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