"Mein Geist ins unbekannte Land"

Von Andreas Malessa |
Von Beruf ist Karl-Josef Kuschel Professor für "Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs" an der Universität Tübingen. Privat hat er eine heimliche Leidenschaft: langsame Spaziergänge über Friedhöfe.
Karl-Josef Kuschel: "Was mich am Tübinger Stadtfriedhof immer wieder fasziniert, ist die Lage. Der Friedhof liegt ja nicht außerhalb der Stadt, sondern mitten in der pulsierenden Stadt. Gleich gegenüber sind die Seminargebäude, die Fakultäten, der Hörsaal Kupferbau. Dort im Hörsaal führen wir ja "Geisterdialoge" auf eine wissenschaftliche Weise, wenn wir über große Gestalten der Vergangenheit reden, und hier liegen ja viele von ihnen, nicht wahr.

Und dieser Übergang in Tübingen ist fließend, wenn Sie auf diesen Friedhof kommen: Hanglage, schon das Gehen wird anders, Sie müssen schreiten, Sie müssen sich verlangsamen."

Warum spazieren wir über den Friedhof ? Die Werke der Dichter, die hier liegen, kann ich lesen, mir in der Buchhandlung kaufen. Und über ihr Leben gibt`s vielleicht im Museum Utensilien. Was soll ich an seinem Grab?

Kuschel: "Also Gräber sind Orte verdichteter Präsenz. Hinzu kommt: Zu einem Friedhof muss man gehen, selbst Entdeckungen machen, deshalb machen Pilgerreisen zu den Gräbern Sinn. Friedhöfe sind zwar Orte der Toten, aber keine toten Orte.

Hier ist das Grab des Friedrich Hölderlin. Das wohl bedeutendste Grab hier in Tübingen und – wie immer: Mit frischen Blumen oben auf dem Grabsockel! Eine gelbe Rose, wunderbar. Hölderlin hat heute noch Verehrer, Leserinnen und Leser, sein Werk ist unvergessen, er ist einer der ganz großen Lyriker in der deutschen Literatur um 1800."

Hat aber ein unglückliches Leben gehabt.

Kuschel: "Ja, denn zur Mitte seines Lebens, mit 36 Jahren, verfiel er
der geistigen Umnachtung und dann hat er noch ein Mal 36 Jahre gelebt, und zwar in seinem Tübinger Turm am Neckar. Hölderlin litt, wie viele seiner Generation, an den Zuständen im feudalen Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts.

Er war 19 Jahre alt, als die französische Revolution ausbrach und die Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das wollte er in Deutschland verwirklichen und diese Ideale sah er in Griechenland schon verwirklicht – im antiken Griechenland! Eine Synthese von Christentum und Griechentum. Aber wie sollte das gehen: Der Nazarener neben Dionysos, der Gekreuzigte neben Herakles, der eine Gott neben den Göttern der Griechen – das musste an seiner
inneren Widersprüchlichkeit zerbrechen. So wie der Dichter in seiner politisch-poetischen Programmatik zur Erneuerung Deutschlands und in seinen privaten Bindungen scheitert, scheitert er auch religiös."

Mir fällt auf, am Grab Ludwig Uhlands: keine Lebensdaten. Nur: Ludwig Uhland.

Kuschel: "Braucht es mehr? Ludwig Uhland ist Markenzeichen für sich. Er ist 1862 gestorben und die Tübinger verehren ihn auf diese Weise. Ludwig Uhland bewundere ich deshalb, weil er eine Synthese verkörpert von etwas, was normalerweise auseinanderfällt: Er ist Wissenschaftler und Politiker, er ist Jurist und gleichzeitig Poet. Und die großen Visionen, die man damals hatte von einem erneuerten Deutschland, die löst er ein, und zwar durch konkretes politisches Handeln. Er war Abgeordneter hier, hat dafür gestritten, dass Württemberg eine Verfassung bekommt, und wenn wir vom "Bürger Uhland" sprechen, dann ist Bürgertum zu verstehen nicht im Sinne des "Spießbürger"tums, sondern im Sinne des französischen "Citoyen", also des aufgeklärten, politisch mündigen, aktiv handelnden und gestaltenden Bürgers und den verkörpert Ludwig Uhland wie kein anderer ...

Nun stehen wir am Grabvon Friedrich Silcher, der über vier Jahrzehnte hier das universitäre Musikleben geleitet hat, aber viele kennen ihn, ohne ihn zu kennen. Man singt seine Melodien, die ihn unsterblich gemacht haben: "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten", das Loreley-Lied, von Heinrich Heine, ja, aber Silcher hat es sangbargemacht und in die deutschen Herzen eingepflanzt oder "Alle Jahre wieder" stammt von Friedrich Silcher oder "In einem kühlen Grunde steht meiner Heimat Haus" oder "Am Brunnen vor dem Tore" - unsterbliche Melodien!"

Ist ein Friedhofsspaziergang nicht auch eine persönliche Distanznahme: "Bitte noch nicht!" Denkt man auch an das eigene Sterben?

Kuschel: "Wenn wir auf einen Friedhof gehen, müsste man ja ein Herz aus Stein haben, wenn man sich nicht fragt: Was wird mein Schicksal sein, was wird von mir bleiben? Geisterdialoge
werden möglich, zwischen diesen großen Gestalten, und deshalb liebe ich diesen Spaziergang über den Friedhof, weil diese Geisterdialoge mich herausfordern: Etwas wird bleiben. Ich
habe etwas hinterlassen. Mit meinem Leben ist etwas gemeint, auch über den Tag hinaus, dann ist das doch ein Selbstwertgefühl, ein Gefühl für die eigene Würde, die mir kostbar zu sein scheint."