Mein FSJ in Afrika

Wiedersehen in Ruanda

29:53 Minuten
Ansicht des Ortes Save.
In Save leben mehr als 30.000 Menschen. Trotzdem fallen Freiwillige wegen ihrer Hautfarbe meist auf. © B. Raddatz
Von Birgit Raddatz  · 07.04.2019
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Vor zehn Jahren absolvierte unsere Autorin in Ruanda ihr Freiwilliges Soziales Jahr. Bis heute beschäftigt sie die Frage, wie es den Menschen geht, die sie damals traf. Und was es bringt, 19-Jährige auf traumatisierte Kinder loszulassen.
25 Kinderaugenpaare schauen mich erwartungsvoll an. Ich stehe an der Tafel, vor der dritten Klasse der Vorschule "Malaika Murinzi". Das bedeutet auf Kiswahili so viel wie "beschützender Engel". Wie ein Engel muss ich den Drittklässlern vermutlich auch vorkommen, mit meiner weißen Haut und meinen glatten Haaren, die sie ständig anfassen wollen. Ich schreibe ein paar Liedzeilen an die Tafel. Die beiden Lehrer, Jean d’Amour Kwihangana und Fidelie Nabintu, warten geduldig im hinteren Teil des Klassenzimmers.
Szene aus einer Vorschulklasse.
In der Vorschule werden mehr als 100 Kinder unterrichtet. © B. Raddatz
Es ist eine typische Szene – viele der Freiwilligen, die für ein Jahr nach Afrika kommen, geben Unterricht in Schulen. Eine Ausbildung haben sie dafür nicht. Was die Kinder hier nicht wissen: Ich bin weder eine Freiwillige noch werde ich ein ganzes Jahr lang bei ihnen bleiben. Vor zehn Jahren allerdings stand ich schon einmal hier, habe Kinder wie ihnen Englisch und Französisch beigebracht. In den Ferien habe ich mit ihnen gebastelt. Und einen Monat lang habe ich im Krankenhaus Nabelschnüre durchgeschnitten und Medikamente verabreicht. Damals war ich 19.

Missionarin auf Zeit

Ruanda hat eine traurige Geschichte. Viele der Menschen, mit denen ich zu tun hatte, hatten den Genozid erlebt. 1994 tötete die Hutu-Ethnie fast eine Million Tutsi und Oppositionelle. Damals war das schon 15 Jahre her, aber das Trauma wirkt bis heute nach. Mich beschäftigen seitdem zwei Fragen: Wie geht es heute Marie Claire und Adelphina, zwei jungen Frauen, mit denen ich mich damals angefreundet habe? Und: Wie sinnvoll war es, mich mit 19 auf traumatisierte Menschen wie sie loszulassen?
2008 bin ich mit "weltwärts" nach Ruanda gereist, ein Programm der Bundesregierung. Das soll jungen Menschen wie mir damals ermöglichen, ein Jahr in sozialen Projekten im Ausland zu arbeiten. Mein Projekt war ein kirchliches, deshalb hieß es "Missionarin auf Zeit" und lief über die Diözese Paderborn. Ein paar Monate vorher hatte ich Abitur gemacht. "Sie geht als Nonne in den Busch", haben einige meiner damaligen Klassenkameraden gesagt.
Ein Internet-Café in Ruanda.
2009 gab es in Ruanda kaum WLAN. Von diesem Internetcafé konnte man Nachrichten nach Hause verschicken.© B. Raddatz
Ich fahre nach Save. Mehr als 30.000 Menschen wohnen hier, trotzdem ist es ein Dorf. Schnell haben die meisten mitbekommen, dass eine Weiße auf dem Hügel angekommen ist. "Jesus sei gelobt – für immer", so werde ich von den Ordensschwestern begrüßt. Ein Jahr lang habe ich mit ihnen gelebt und auch gebetet. Es ist ein Säkularinstitut, das heißt, die Schwestern tragen keinen Schleier oder die Nonnentracht und sind etwas freier in ihren Gebetszeiten.
Annerose, mittlerweile die einzige Deutsche im Institut, zeigt mir, wo ich schlafe. Es ist eines der Gästezimmer, im vorderen Teil des Hauses. In meinem alten Zimmer wohnt mittlerweile Adelaide, eine Ruanderin. Alle Zimmer sind gleich eingerichtet: ein Einzelbett mit Nachtschränkchen und Moskitonetz, ein Waschbecken, ein Regal, ein Sessel, ein Schrank und ein Schreibtisch. Damals hatte ich allerhand Fotos von meiner Familie und meinen Freunden aufgehängt, jetzt steht an meiner Tür: "Willkommen Brigitte!" Dazu ein Foto von mir und den Kindern. Ich bin gerührt und fühle mich willkommen, genau wie damals. Und weil sich wirklich alles genauso anfühlt, wie vor zehn Jahren, bete ich mit den Schwestern.

Das Tagebuch von damals im Gepäck

Später packe ich meine Sachen aus. Auch mein Tagebuch von damals habe ich mitgebracht. Ich blättere darin und will wissen, wie ich mich 2009 gefühlt habe, als ich hier ankam:
"29. Oktober 2008: Am Nachmittag waren drei Jungs von der Oberschule da und haben nach 'soeur Brigitte' gefragt, also nach mir. Die Nonnen werden hier mit 'ma soeur' also 'meine Schwester' angeredet. Ist schon interessant, dass wir anscheinend so aussehen, als wollten wir in die Gemeinschaft eintreten oder hätten es schon längst getan. Am Abendbrottisch haben sich dann alle köstlich darüber amüsiert."
"Die Diözese wollte jungen Leuten eine Chance auf eine Erfahrung geben, damit sie eine andere Mentalität kennenlernen und sehen, wie die Menschen da leben."
Kapelle von innen.
In ihrer Zeit als Freiwillige hat Birgit Raddatz in dieser Kapelle gebetet. © B. Raddatz
Ancilla Mukandolis leitete vor zehn Jahren das Institut in Save, mittlerweile ist sie im Rentenalter. Ihre langen, grauen Haare hat sie wie immer nach hinten gekämmt. Ancilla war für mich die würdevollste Frau, die ich bis dahin getroffen hatte. Jetzt schaut sie mich mit ihren gütigen Augen lange an. Ich sollte mich nicht verrückt machen, allen sei bewusst gewesen, dass wir Vieles damals gar nicht verstehen konnten, sagt sie:
"Ich persönlich habe mir auch nicht allzu viele Gedanken gemacht. Ich habe nicht gedacht, was schicken sie uns da für junge Leute? Denn ich weiß, wenn man grade erst das Abitur gemacht hat, dann ist man noch jung und hat noch keine Ausbildung. Und weil wir eine Gemeinschaft unterschiedlichen Alters sind, wissen wir ja, dass die Jungen nicht so denken, wie die Älteren. Für uns ist das ganz normal. Wenn wir das vergessen, dann haben wir nicht aufgepasst und können nicht zusammenleben."
Was für die Gemeinschaft normal ist, war für mich damals alles neu: Jeden Morgen zur Messe zu gehen und abends noch einmal zu beten. Das alles auf Französisch und Kinyarwanda, eine Sprache, die ich bis heute nicht richtig spreche.

Armut sehen, Hoffnung geben

"Die Sprache war natürlich ein Hindernis. Aber die Sprache ist auch nicht das einzige Mittel, um zu sehen, wie die Menschen leben. Auch wenn ihr noch sehr jung wart, habt ihr ja doch einige Sachen sehen können. Zum Beispiel bei den Kinderfamilien, da habt ihr gesehen, in welcher Armut sie leben. Und ihr habt gesehen, wie wir versucht haben, ihnen zu helfen. Und ihnen ein bisschen Hoffnung zu geben."
Die Kinderfamilien: So werden hier die Familien genannt, deren Eltern im Genozid umgekommen waren oder im Gefängnis sitzen. Das älteste Kind kümmert sich meist um die jüngeren Geschwister. Wir haben sie regelmäßig besucht, je nachdem, was die Kinder gerade brauchten, hat das Institut ihnen schon einmal Saatgut gegeben, oder ein Fahrrad gekauft.
Birgit Raddatz bastelt und töpfert 2009 mit Schulkindern.
Basteln und Töpfern während der Freizeit als Freiwillige 2009.© B. Raddatz
Ich bin damals Armut begegnet, die ich bis dahin nicht kannte. Die mich berührt und manchmal auch etwas resigniert zurückgelassen hat. So steht es zumindest in meinem Tagebuch.
"Das Schicksal der dritten Familie ist mir dann wirklich sehr nahe gegangen. Sie lebten mit sieben Familienmitgliedern, wovon eins schon das Kind eines der Geschwister war, in einem winzigen Häuschen ohne richtige Betten und ohne eine tägliche Mahlzeit. Nach so einer Erfahrung einfach Mittag zu essen, ist fast unmöglich."
Ist es so, wie Ancilla sagt? Ging es am Ende darum, den Menschen ein bisschen Hoffnung zu geben? Aber wie viel kann ich jemandem schon geben, dessen Familie brutal ermordet wurde und dessen Sprache ich nicht spreche, so dass er mir erzählen kann, wie es ihm damit geht? Ancilla sieht das auch so.
"Wenn man nicht direkt mit jemandem sprechen kann, dann kann man seine Gefühle auch nicht richtig ausdrücken. Ich finde, dass sind Elemente, die euch und auch den anderen nicht geholfen haben, sich frei und wohl zu fühlen."

Bürgerkrieg im Nachbarland

Und außerdem hatten Ancilla und die anderen auch Angst, dass uns etwas zustoßen könnte. Zwar war die Situation in Ruanda vor zehn Jahren als friedlich beschrieben worden. Aber die Regierung suchte weiterhin nach den Tätern von damals, die sich im Exil verschanzt hatten und von dort das Land attackierten. Und im Nachbarland Kongo tobte nach wie vor der Bürgerkrieg.
"Es war ja auch für uns eine große Verantwortung, wenn Eltern uns ihre Kinder anvertrauen, dann hoffen sie ja auch, dass die in Sicherheit sind. Und wenn dann etwas passiert, ist das schlimm."
Am nächsten Tag besuche ich Marie Claire. Ihre Küche ist eigentlich ein Flur. Zum Kochen benutzt sie zwei Gasplatten, die sie auf einen Holztisch gestellt hat. Wir kennen uns aus dem Kinderdorf, das die Ordensschwestern lange betrieben haben, und in dem Marie Claire aufgewachsen ist. Wir haben oft mit ihnen gegessen, gespielt oder abends einen Film zusammen angeschaut. Über die Zeit haben wir uns erst Briefe, dann später per WhatsApp geschrieben.
Heute ist Marie Claire 34 und Laborangestellte in einem kleinen Krankenhaus in Karama, etwa eine Dreiviertelstunde von Save entfernt. Sie hat ein Zimmer gemietet, das zum Krankenhaus gehört. Zwölf Euro zahlt sie dafür monatlich. Alles ist einfach bei ihr, die Toilette ist ein Loch im Boden, geduscht wird mit zwei Kanistern Wassern. Ihr Zimmer hat ein Bett, ein kleines Nachtschränkchen und einen Stuhl. Hinter einem Vorhang lagert sie in einem Pappkarton Teller, Tassen und Besteck.

Tabuthema Genozid

Mir zuliebe hat sie Maniokteig gekocht. Der besteht eigentlich nur aus Wasser und Mehl. Dazu gibt es eine Soße aus Erdnüssen, kleinen Fischen und Tomaten. Beim Essen reden wir über alte Bekannte. Als sie mich fragt, wie es meiner Familie geht, fasse ich den Mut, sie das erste Mal seit wir uns kennen nach ihren Eltern zu fragen.
"Darf ich dich mal was fragen? Du brauchst nicht antworten, wenn du nicht willst. Ich glaube, ich habe dich nie gefragt, wie deine Eltern gestorben sind."
"Wie meine Eltern gestorben sind? Das war im Jahr 1994, während des Krieges."
"Sind sie umgebracht worden?"
"Ja."
"Alle beide?"
"Alle beide mit meinen beiden kleinen Schwestern. Sie sind tot, das ist vorbei, was soll ich machen."
"Macht das nicht irgendwas mit dir?"
"Nicht wirklich."
Wir essen schweigend weiter. Der Genozid ist oft noch ein Tabuthema in Ruanda. Die meisten Ruander können oder wollen nicht darüber sprechen.

Wiedersehen in Gisenyi

Eine, die das wohl am besten weiß, ist meine ehemalige Betreuerin Ingrid Janisch. Sie ist ebenfalls Ordensschwester in der Gemeinschaft St. Bonifatius, lebt aber mittlerweile in Goma, in der Demokratischen Republik Kongo. Dort ist die Gemeinschaft ebenfalls aktiv. Ingrid und ich treffen uns deshalb in Gisenyi, im Westen von Ruanda und nahe der Grenze. Die Busfahrt dahin dauert knapp sieben Stunden – über geteerte Straßen geht es vorbei an kleinen Häusern mit blauen Wellblechdächern. Es ist Sonntag, Menschen laufen am Wegrand mit Körben auf dem Kopf vorbei. Ich nutze die Zeit, um nachzudenken.
Gisenyi liegt idyllisch am See Kivu, kurz hinter der Grenze erhebt sich am Horizont der riesige und noch aktive Vulkan Nyiragongo. Ich treffe mich mit Ingrid in einem kleinen Restaurant fast direkt am Wasser. In Goma, aber auch in Save hat sie vor allem mit den traumatisierten Frauen Übungen gemacht, damit sie sich entspannen. Eine Mischung aus Mediation, Tai Chi und anderen Methoden. Wie jemand mit seinem Trauma umgeht, liege vor allem an der eigenen, seelischen Belastbarkeit.
"Vor zehn Jahren war das ja eigentlich schon 15 Jahre danach. Das war ja schon ein großer Schritt raus aus den ganzen tragischen Ereignissen des Landes. Ich habe das bei den Frauen, bei den Witwen, mit denen ich gearbeitet habe, festgestellt, wenn man ihnen hilft, wieder einen neuen Sinn im Leben zu finden und sich nützlich zu fühlen. Bei den Witwen war das, dass ich sie ermutigt habe, sich untereinander zu helfen. Aber auch, dass einige Frauen sich zusammengeschlossen haben als Samariterinnen, um den Aidskranken zu helfen. Um auch zu sehen, es geht nicht nur um mich, sondern auch offen zu sein für den anderen. Und das ist schon ein Schritt Richtung Heilung bei Traumata."

Ein Schmetterling als Trauma-Trigger

Ich erzähle Ingrid, dass mich Mama Bea, eine der Witwen, am Vortag in Save wiedererkannt hat, auch nach zehn Jahren. Und dass sie sich erinnert hat, dass wir versucht haben, ihr Englisch beizubringen. Aber bei allen schönen Erinnerungen, hatte ich doch damals auch immer Angst, dass die Menschen durch eine unbedarfte Handlung meinerseits in ihr Trauma zurückfallen könnten. So habe ich miterlebt, wie ein Mädchen in der Schule zu schreien begann und damit das Trauma bei Dutzend weiteren ausgelöst hatte.
"Ich weiß das von einem anderen Mädchen in der Schule. Ich weiß nicht, wie es bei dem Mädchen war, aber das hier hat einen Schmetterling gesehen und dieser Schmetterling war der Auslöser zu einem Flashback zu ihrem Trauma. Weil in der Zeit des Völkermords, in der sie schreckliche Dinge erlebt hat, ein Schmetterling war. Und dieser Schmetterling ist zu diesem Symbol geworden für dieses Erlebnis."
Ingrid Janisch und Birgit Raddatz an einem Ufer.
Ingrid Janisch (rechts) hat die Freiwilligen vor zehn Jahren betreut.© B. Raddatz
Ein Schmetterling als Trigger für das Trauma. Wenn sogar das möglich ist, wie gefährlich war es dann, 19-jährige, privilegierte Teenager auf die Menschen loszulassen? Ingrid versucht, mich zu beruhigen.
"Da darf man nicht zu viel Angst haben. Man muss schon vorsichtig sein, aber nicht mit Angst. Denn Ängste übertragen sich. Wenn du etwas – selbst wenn es nicht ganz ideal ist – aber in einem guten Sinne mit Liebe tust, dann denke ich, kann es nicht etwas ganz Schreckliches auslösen."
Wir hätten uns damals gut in die ruandische Gesellschaft integriert, findet sie. Dass die Gemeinschaft nach uns keine Freiwilligen mehr aufgenommen hätte, läge nicht an uns, beteuert sie. Ein Jahr danach ist sie selbst gegangen und die Ordensschwestern haben die Kooperation mit den "weltwärts"-Freiwilligen aufgekündigt, weil sie diese von da an nicht mehr angemessen betreuen konnten.

"Voluntourismus" als Geschäftsmodell

"Man kann die jungen Leute nicht nur ganz alleine lassen. Und sagen, jetzt macht mal da was. Also das ist, glaube ich, schon ein stückweit eine Überforderung. Vielleicht merkt man das jetzt nicht sofort, aber man merkt es, wenn man zurückgeht. Dass man einfach von so einer Situation, von so einer Not betroffen ist, das sind auch Gefühle, mit denen ich umgehen muss. Wie lebe ich damit, wie gehe ich damit um? Oder warum spricht mich das jetzt so an? Einiges müsste man doch ein bisschen mehr ins Gespräch bringen und nicht einfach nur so abhaken, so wie so eine Sightseeingtour, es ist kein Sightseeing, es ist ja kein Tourismus."
Und trotzdem brechen immer mehr junge Deutsche in die Welt auf und zahlen oft viel Geld, damit sie arme Kinder betreuen können. "Voluntourismus" heißt das dann, und mittlerweile ist daraus ein Geschäftsmodell geworden, das manche Anbieter schamlos ausnutzen. Ich habe gelesen, dass in manchen ärmeren Ländern dafür sogar Kinder aus ihren Familien geholt und in Pseudowaisenhäuser untergebracht werden.
"Und dann kann man schon sagen, das ist ein Anspruch an die Begleitung, damit man auch etwas nacharbeiten oder aufarbeiten und besser verstehen kann. Warum betrifft mich das grade, was hat das vielleicht mit meiner eigenen Geschichte zu tun?"
Sie kann sich rückblickend an keine Situation erinnern, in der man uns Freiwillige allein gelassen hat. Bis auf eine. Unsere Zeit im Krankenhaus.
"Ich weiß, dass ihr da manchmal sehr kaputt wiederkamt. Ja das war schon viel, glaube ich. Das war schon ein bisschen hart."
Der Krankenhaussprecher, Nepo Ntawurushimana, führt mich stolz über die neue Geburtsstation und die Gynäkologie. Das Universitätskrankenhaus in Butare im Süden Ruandas ist eines der größten des Landes. Hinter grünen Vorhängen liegen Frauen, deren Wehen gerade erst eingesetzt haben. Im Vorraum warten Frauen mit ihren Kindern, Ärzte und Hebammen drängen sich an uns vorbei. Über einen Innenhof gelangen wir zu den Zimmern, elf sind privat, sechs davon sind Schlafsäle für bis zu zehn Frauen.

Laien durften Blut abnehmen

"Alle Krankenhäuser in Ruanda sind derzeit in der Entwicklung, um das internationale Niveau zu erreichen."
Zwei Europäerinnen im weißen Kittel und ein Ruander schauen auf, als wir den Raum betreten. Man habe Kooperationen mit verschiedenen Partnern auf der ganzen Welt, erklärt Ntawurushimana.
Ich erzähle dem Sprecher, dass ich hier vor zehn Jahren Praktikantin war. Er schaut mich ungläubig an. Dabei habe ich gestern noch den Eintrag in meinem Tagebuch nachgelesen:
"Am zweiten Tag durfte ich direkt das erste Mal Blut abnehmen. Kaum zu glauben, wenn man überlegt, dass das bei uns in Deutschland noch nicht einmal mehr die Krankenschwestern dürfen. Nachmittags um 15 Uhr werden dann die Medikamente verteilt und ich sollte einem Patienten sein Medikament geben. Die Pflegerin hat mir zwar vorher erklärt, wie ich es machen soll, aber sie hat danach nicht mehr hingeguckt und weil ich mich mit der Kanüle nicht auskannte, ist die Flüssigkeit nicht bis ins Blut gedrungen, sondern wieder herausgelaufen. Ich hatte den ganzen restlichen Tag ein schlechtes Gewissen, weil die Leute hier ihre Medikamente alle selber vorher kaufen müssen, bevor sie ins Krankenhaus eingeliefert werden."
Birgit Raddatz mit einer Freundin in Kittel und mit Mundschutz im Jahr 2009.
Auch bei Operationen war Birgit Raddatz (r.) im Krankennhaus in Butare 2009 mit dabei. © B. Raddatz
Ohne Ausbildung dürfe hier niemand mehr arbeiten, sagt Nepo Ntawurushimana. Außerdem gebe es allerhand zu unterschreiben, bevor ein Praktikant anfängt.
"Man kann dich nicht alleine lassen mit Dingen, an die du nicht gewöhnt bist und wo du keine Kompetenzen hast. Und es reicht nicht, eine Qualifikation zu haben, du musst auch akkreditiert sein von professionellen Stellen, die vom Staat anerkannt sind. Und die geben dir dann die Erlaubnis, hier zu arbeiten."
Eine Frau verlässt mit ihrem Kind auf dem Rücken den Wartebereich. Bis zu vier Babies werden auf der Station jeden Tag geboren. Mit 19 war das für mich einfach zu viel. Am 13. Januar 2009 schrieb ich in mein Tagebuch:
"Heute haben wir dann noch einmal eine schlechte Erfahrung machen müssen. Von vier Geburten, die wir heute hatten, ist das dritte eine Totgeburt gewesen. Die Patientin, die schon einmal eine Fehlgeburt hatte, hat wieder nicht richtig gepresst. Die Ärzte haben versucht, es eine halbe Stunde lang wiederzubeleben. Es wäre ein gesunder Junge gewesen."

Meine Freundin will nicht zur Gedenkstätte

Zurück bei meiner Freundin Marie Claire in Karama. Wir beide müssen uns verstecken. Es ist "Umuganda", der Arbeitstag der Ruander. Am letzten Samstag im Monat müssen sie von acht bis 13 Uhr ihre öffentlichen Straßen fegen, Unkraut am Wegrand jäten oder Reparaturarbeiten leisten. Wie vieles hier in Ruanda ist es Pflicht, dabei mitzumachen. Wer es nicht tut, versteckt sich eben besser. Wir sitzen auf einer Holzbank im Innenhof und warten. Es fängt an zu regnen. Eigentlich wollen wir eine Freundin, Adelphina, in der Stadt besuchen.
Ich habe mein Fotobuch mitgebracht, in das ich meine Erinnerungen vor zehn Jahren geklebt habe. Marie Claire hat es sich geschnappt und blättert darin.
"Die nächsten Seiten nur, wenn du es verkraftest. Die sind in Murambi. Nur wenn du willst, sonst blätter‘ weiter."
"Schon gut, ich will es sehen."
In der Genozid-Gedenkstätte Murambi werden die Skelette der Toten aufgebahrt.
In der Genozid-Gedenkstätte Murambi werden die Skelette der Toten aufgebahrt.© B. Raddatz
Murambi. Eine von sechs größeren, nationalen Genozid-Gedenkstätten des Landes. Eigentlich sollte dort mal eine Sekundarschule entstehen. Aber 1994 flüchteten Tausende Ruander in die noch nicht ganz fertigen Klassenzimmer. Die Hutu-Milizen töteten hier schätzungsweise 50.000 Menschen, darunter viele Kinder. Ihre Skelette liegen in Murambi mit Kalk versiegelt auf Holzpaletten. Manche haben den Mund schreiend verzerrt, bei anderen hängen noch die Rosenkränze um den Hals. Ich habe das Mahnmal besucht und war geschockt. Wie wird Marie Claire reagieren?
"Ich kann da nicht hinfahren."
Endlich hat der Regen nachgelassen. Mit dem Motorrad-Taxi brechen wir zu Adelfina nach Butare auf. Eine halbe Stunde geht es über die vom Regen aufgeweichte, rote Erde.
Adelphina hat mittlerweile eine dreijährige Tochter, Audrey. Mit dem Vater ist sie seit der Geburt nicht mehr zusammen. All das ist in den letzten Jahren an mir vorbeigegangen, ich war zu beschäftigt, mein eigenes Leben zu leben.

Alleinerziehend und stigmatisiert

Die Frau, die aus der Tür tritt, ist nicht mehr die Adelphina, die ich kenne. Die langen Zöpfe hat sie gegen eine praktische Kurzhaarfrisur eingetauscht. Sie hat ein blaues Tuch um ihren Kopf geschlungen, ihre Augen sind vor Müdigkeit ganz rot. Ihr Panje, den sie sich um die Hüften gebunden hat, ist schon ein bisschen abgewetzt. Alles an ihr sagt: Ich bin jetzt eine alleinerziehende Mutter.
Sie bittet uns rein. Circa 15 Türen gehen von dem Innenhof ab. Jede Wohnung sieht gleich aus. Ein Vorraum mit einem Tisch und Stühlen und ein dahinterliegendes Schlafzimmer. Dort schläft Adelfina zusammen mit ihrer Tochter und ihrer Nichte, die sie nach dem Tod ihrer älteren Schwester auch noch betreut. Adelfina erkundigt sich höflich nach meiner Familie. Und dann bricht es aus ihr heraus. So habe sie sich ihr Leben nicht vorgestellt, schluchzt sie. In diesem Moment bin ich einfach nur eine Freundin, ich schalte das Mikro aus und nehme sie in den Arm.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Nach Jahren wieder getroffen: Marie Claire Nyiranzacahinyeretse, Birgit Raddatz, Adelphina Nyirandahimana (v.l.n.r.)© B. Raddatz
Ich beschließe, dass Adelphina, Marie Claire und ich etwas Abwechslung gebrauchen können. Adelphina hat ihre Fleecejacke gegen ein Oberteil mit Pailletten getauscht und tanzt jetzt ausgelassen zur Musik. Als wir uns ein paar Minuten frische Luft gönnen, erzählt mir Adelphina, dass sie fast alle ihre Freunde nach der Geburt ihrer Tochter verlassen haben. Sie glaubt, sie wird dafür verurteilt, ein uneheliches Kind zu haben. Was sie denn Schlimmes gemacht hat, habe sie sich gefragt. Dass sie nun zwei Kinder, ihr eigenes und ihre Nichte, zu versorgen hat, macht ihr besonders zu schaffen.
"Ich brauche einen Vater zu Hause. Jemanden, der sich um die Kinder kümmert. Ich bin es, die sich um die kleine Clemence kümmert, sie hat ja sonst niemanden mehr, nach dem Tod ihrer Mutter. Sie ist 2016 gestorben. Mein Bruder Emmanuel ist 2015 gestorben und meine große Schwester 2016. Meine ganzen Ersparnisse von meiner Arbeit vorher habe ich für ihre Begräbnisse benutzt und für die Kinder. Die letzten drei Jahre habe ich so abgenommen, weil ich es bin, die sich um alles kümmert."
Ich kann mir nur vage vorstellen, wie es ihr geht. Bin in ein paar Tagen wieder weg, in meiner komfortablen Welt. Ich verspreche ihr aber, mich ab sofort häufiger zu melden. Es ist vermutlich ein schwacher Trost.

Das Trauma wird weitergegeben

Es ist Prüfungszeit für die dritte Klasse der Vorschule "Malaika Murinzi" in Save. Die kleine Emily soll die Zahl fünf an die Tafel zeichnen. Sie kann es nicht. Jean d’Amour Kwihangana seufzt. Manchmal spielten eben noch andere Faktoren eine Rolle, warum die Kinder die Prüfungen nicht schafften.
"Du musst zuhören. Zum Beispiel, wenn du ihnen die Zahl eins beibringen willst. Und auf einmal erzählt dir ein Kind: ´Papa Lehrer – so nennen mich die Kinder hier – Papa Lehrer, letzte Nacht habe ich gehört, wie mein Vater meine Mutter geschlagen hat.` Da kannst du nicht einfach sagen: Hör auf! Wenn du ihnen zuhörst, dann kennst du sie besser und wenn du sie besser kennst, dann ist es einfach, ihnen was beizubringen."
Ich erzähle ihm, dass sich viele der Kinder, mit denen ich zu tun hatte, sich oft noch nicht einmal im Kreis drehen konnten. Sie waren wie erstarrt. Das, was ihre Eltern im Genozid erlebt hatten, übertrage sich auf die Kinder, ist sich der Lehrer sicher. Sie seien dann wie gelähmt und verhielten sich nicht wie gesunde Kinder.
"Menschen, die 20 oder 21 Jahre alt sind, sind immer davon betroffen, weil ihre Eltern ihnen das erzählt haben. Wenn deine Familie meine Familie umgebracht hätte, denkst du, meine Familie würde dir vergeben? Auch meine Kinder nicht. Wir erzählen ihnen, dass diese Menschen schlecht sind."
Zwei Vorschullehrer im Klassenzimmer.
Jean d´Amour Kwihangana und seine Kollegin unterrichten in der Vorschule "Malaika Murinzi".© B. Raddatz
Jean d’Amour ist 25 Jahre alt, also nach dem Krieg geboren. Er hat fast sein ganzes Leben in Uganda verbracht. Dorthin war seine Mutter mit ihm gegangen, nachdem sie seinen Vater verlassen hatte. Jean d’Amour hat bis heute nichts mehr von ihm gehört. In der Vorschule ist er nun selbst so etwas wie eine Vaterfigur, wenn auch eine strenge. Wie er es eigentlich finde, dass weiße, unausgebildete Teenager in Länder wie Ruanda fahren, um dort seinen Job zu machen, will ich wissen. Jean d’Amour sieht es gelassen. Es sei besser, sich auszutauschen, als nur in seiner Kultur zu bleiben. Dann wisse man wenigstens, wie die anderen leben.

Am Ende bleibt der Austausch

Vielleicht hat er Recht. Vielleicht ist es das, was am Ende eines Freiwilligendienstes übrig bleibt. Ein Austausch, den beide Seiten nicht mehr vergessen. Selbst wenn oft nur die eine Seite die Chance bekommt, auch wirklich zu sehen, wie der andere lebt. Ich hatte damals Glück und konnte über viele Probleme mit Ingrid sprechen. Und manche Dinge, wie die Erfahrung im Krankenhaus, würde ich so heute vermutlich nicht noch einmal wiederholen. Oder 19-Jährigen eher davon abraten.
Plötzlich reißt mich Jean d’Amour aus meinen Gedanken:
"Als du Ruanda 2009 verlassen hast, wusstest du da, dass du eines Tages wiederkommst?"
"Ich hab es in mein Tagebuch geschrieben, dass ich wiederkomme. Es war nicht so, dass ich es immer vorhatte, aber ich hatte viele Fragen, als ich gegangen bin, deswegen wollte ich immer wiederkommen."
"In zehn Jahren werde ich vielleicht nicht mehr hier an der Schule sein. Aber du kannst mich anrufen, wenn du wieder da bist. Und dann komme ich und besuche dich."
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