Mein 9. November: Petra Gering

Petra Gehring, 47 Jahre alt, in Düsseldorf geboren, arbeitet als Philosophie-Professorin und Vizepräsidentin an der TU Darmstadt. Ihre Familie lebt in Mittelhessen, von dort aus ist sie 1989 an die deutsch-deutsche Grenze aufgebrochen.
Wir waren in einem Dorf auf der Westseite und die hatten Sichtkontakt zu einem Dorf auf der Ostseite über Jahrzehnte gehabt, die Dächer jeweils dort drüben. Und diese Leute aus dem Dorf, das quasi immer nur in Sichtweite zu den westdeutschen Dächern war, die waren jetzt über mehrere, zig Kilometer erst mal nach Norden gefahren, dann über die Grenze rüber, dann wieder nach Süden gefahren, um zu dem Dorf zu kommen, das da auf der anderen Seite liegt. Und die haben sich also bestaunt gegenseitig, konnten immer wieder nicht fassen, dass sie jetzt auf der anderen Seite sind, und haben ununterbrochen geredet. Es war wie so ein Schockzustand oder wie so eine Art Besoffenheit.

Was dann auch nett war: West und Ost erzählten sich erstens, wo sie her kamen und dass das da drüben ist und wie nah das ist usw. Und das zweite Thema neben diesem Punkt waren die Autos. Lass uns mal gucken, wie eure Autos aussehen und wie man sich da fühlt, wenn man sich da reinsetzen kann. Das heißt also, da standen die Trabis, da standen irgendwelche Golfs usw. und jeweils immer bezauberte Menschen, die jetzt in den Autos der anderen saßen und geguckt haben, wie die aussehen, und sich das haben erklären und kommentieren lassen, also ganz witzige wechselseitige Bestaunaktionen einerseits über die für beide Seiten verrückte Geografie - plötzlich sind die von drüben jetzt hier, plötzlich sind jetzt wir hier, wo wir nur rübergucken konnten - und auf der anderen Seite die Innenräume dieser Autos, die verglichen wurden. Das war so noch mal im Kleinen, der Osten guckt sich den Westen an und der Westen guckt sich den Osten an, indem man die Innenseite der Autos betrachtet hat und die Bedienelemente.

Hat mich tief beeindruckt, weil einfach diese gemeinsame Bewegtheit der Leute jede Art von Fremdheit oder von normalen Formen der Kontaktaufnahme, der Höflichkeit, der Distanz übersprungen hat. Es war wie so eine Pfingstsituation. Alle redeten gleichzeitig. Es wurde sich auch immer wieder wiederholt. Also, man kriegte Sachen drei-, vier-, fünf-, sechsmal erzählt, sagte wieder dann ja, hm und so. Die Leute hörten einfach nicht auf.