Mein 9. November 1989

Zu Gast: Ulrike Poppe, ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk, Historiker und Autor |
"Wahnsinn!" – das war das Wort des Abends, jenes 9. November 1989. Wahnsinn, dass nach 28 Jahren der Trennung die Mauer in Berlin fiel und damit die Grenze zwischen Ost und West. Heute - 20 Jahre danach - werden diese Erinnerungen nochmals wach, an die Nacht, die wohl kaum jemand vergessen kann, der sie miterlebt hat.
"Wir waren zunächst stumm, erschrocken, konnten es nicht fassen. Und dann schalteten wir das Fernsehen an, sahen die Szene mit Schabowski und dem Zettel. Und dann zwängten wir uns in unsere Autos und fuhren zum Brandenburger Tor", erinnert sich die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe. Sie kam an dem Abend von einem Treffen der oppositionellen Gruppe "Demokratie Jetzt" und wollte zu einer Party, " .. dort erfuhren wir von der Maueröffnung dadurch, dass der Wein alle war und jemand in eine Kneipe ging, um Nachschub zu holen, und der Wirt gab für die ganze Kneipe Freibier aus."

Bei aller Freude über die Öffnung der Grenze möchte die heutige Studienleiterin für Politik und Zeitgeschichte an der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg die Feiern auch dazu nutzen, die Geschehnisse nachzuzeichnen, die zum Fall der Mauer führten. Viele Westdeutsche hätten noch immer das Gefühl, "die DDR sei durch Unfähigkeit zusammengebrochen, und der Westen musste dem Osten die Demokratie bringen. Dass der Wunsch nach Demokratie auch aus eigener Kraft zustande gekommen ist, setzt sich erst sehr langsam durch." Es habe schon vor 1989 eine Opposition in der DDR gegeben.

Sie sieht das Jubiläum auch als Chance, die 20 Jahre Revue passieren zu lassen, zu schauen, was aus den Hoffnungen geworden ist – in Ost wie West. Die Freude werde "bei vielen überlagert von Arbeitslosigkeit, viele haben auch nicht gelernt, mit den Wechselfällen des Lebens zurecht zu kommen." Das Leben in der DDR sei vorgeplant gewesen, "von der Wiege bis zur Bahre. Der Staat hat uns entmündigt, aber er gab auch Sicherheit für die Menschen. Und es war tragisch für die Menschen, die nicht mehr jung genug waren, für sie war der Wechsel schwer zu verkraften. Das hat die Freude gedämpft."

Für Ilko Sascha Kowalczuk bedeutete die Maueröffnung zuallererst eine Befreiung, auch, wenn er sie sich als Jugendlicher in der DDR nicht vorstellen konnte. "Das war außerhalb meiner Vorstellung, obwohl ich jeden Tag unter der Mauer gelitten habe. Ich habe Rias gehört und mich gefragt, warum gilt der Wetterbericht auch für mich, aber nicht das Programm vom 'Quasimodo'? Wir standen als Zehn- bis Zwölfjährige auf dem Schulhof und haben ausgerechnet, dass es noch über 50 Jahre sind, bis wir in den Westen können. Es gab keinen Lebensbereich, in dem der Westen keine Rolle gespielt hätte."

Der Historiker und Buchautor gehört – ebenso wie Ulrike Poppe – zu den Menschen in der DDR, denen die Stasi mit besonderen "Zersetzungsmethoden" zusetzte. Da er schon als Schüler nicht systemkonform war, durfte er kein Abitur machen, bekam zunächst keine Lehrstelle, wurde dann Baufacharbeiter, später Pförtner. Studieren konnte er erst nach dem Mauerfall. Heute gehört der Mitarbeiter der "Birthler-Behörde" zu den profiliertesten Kennern der DDR-Geschichte.

In seinem jüngsten Buch "Endspiel" analysiert er, warum der DDR-Sozialismus nach vier Jahrzehnten wie ein Kartenhaus zusammenfiel. Dass "dieses System an sein alternativloses Ende gekommen ist, wie die Wirtschaft nicht mehr funktionierte, warum sie nicht mehr funktionierte, wie die Ökologie völlig kaputt war, wie die innerstädtischen Quartiere gewissermaßen verrottet waren."

20 Jahre nach dem Mauerfall sieht auch er noch viel Gesprächsbedarf zwischen Ost- und Westdeutschen. Auf seinen Reisen begegnen ihm viele, die sich Verlierer der Wiedervereinigung sehen, das müsse man ernst nehmen. In seinen Gesprächen versuche er auch, den größten Gewinn des 9. Novembers zu vermitteln:

"Die Freiheit ist sehr anstrengend. Wir leben nicht in einer perfekten Gesellschaft, es gibt viele Mängel, es gibt viel zu verändern. Aber die Freiheit ist ein wichtiger Wert. Ohne Freiheit keine Gerechtigkeit, sie ist die Grundvoraussetzung für alles."

"Mein 9. November 1989 – Der Fall der Mauer und die Folgen"
Darüber diskutiert Dieter Kassel heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit Ulrike Poppe und Ilko-Sascha Kowalczuk. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 / 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.


Literaturhinweis:
Ilko-Sascha Kowalczuk: "Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR", Verlag C.H. Beck 2009