Meilenstein der Musikgeschichte

Moderation: Frank Meyer · 24.04.2008
Walter Braunfels war einer der wichtigsten Komponisten in der Weimarer Republik. Von den Nazis wurde er 1933 aus dem Amt gejagt und geriet nahezu in Vergessenheit. Nun wird Braunfels' Stück "Jeanne d’Arc - Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna" an der Deutschen Oper Berlin zum ersten Mal szenisch aufgeführt.
Frank Meyer: Die Jungfrau und Kämpferin, die Verräterin und Heilige Jeanne d'Arc hat die Künstler immer wieder beschäftigt. Es gibt Jeanne d'Arcs von Voltaire und von Schiller, von George Bernhard Shaw und von Bert Brecht, von Otto Preminger und Luc Besson. "Jeanne d'Arcs - Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna", diese Oper hat der Komponist Walter Braunsfels Anfang der 40er-Jahre komponiert, damals hat er von den Nazis verfemt in der innere Immigration gelebt. Seine Jeanne d'Arc wird jetzt fast 70 Jahre nach der Entstehung szenisch uraufgeführt an der Deutschen Oper Berlin. Der Regisseur Christoph Schlingensief hat ein Regiekonzept für diese Oper geschrieben, und an der Inszenierung arbeiten Anna-Sophie Mahler, Søren Schuhmacher und Carl Hegemann. Der ist jetzt für uns am Telefon. Carl Hegemann, Walter Braunfels muss man sagen, ist ein heute nahezu unbekannter Komponist. Die Nationalsozialisten haben ihn aus dem öffentlichen Gedächtnis verdrängen wollen, das ist ihnen fast gelungen. Warum hat sich Walter Braunfels denn damals Anfang der 40er-Jahre in Deutschland mit dieser Figur, mit Jeanne d'Arc beschäftigt?

Carl Hegemann: Also ich glaube, dass er sich mit dieser Figur identifiziert hat, als großer Katholik, vom Protestantismus konvertiert. Er als ehemals großer und angesehener Komponist wurde neben Richard Strauss am meisten gespielt, seine Opern auch, und dann plötzlich kaltgestellt, nicht in der Lage zu widerrufen. Und das hat er praktisch für die Schublade geschrieben. Er hat da seinen ganzen Zweifel und seine Verzweiflung in dieser Partitur, glaube ich, und in diesem Libretto, was er ja auch selbst geschrieben hat, zum Ausdruck gebracht.

Meyer: Wer ist denn diese Jeanne d'Arc bei ihm, bei Walter Braunfels? Ist das eine religiöse Figur, eine Heilige, oder hat sie auch etwas Politisches?

Hegemann: Das Interessante ist, dass anders als bei Bertolt Brecht oder George Bernhard Shaw, auch schon anders als bei Schiller diese Johanna eine von Gott Berufene ist. Er nimmt das also ganz katholisch, als mittelalterlich ernst und stellt sie aber in den Konflikt des sündigen Menschen zwischen Rettung der Seele, dem Himmlischen, und Körperlust im Irdischen, respektive sogar dem Teufel. Das, was das Besondere ist an dem Libretto von Braunfels, dass da noch die andere Figur, das Pendant, derjenige, der diesen ganzen Krieg, den Johanna führt gegen die Engländer, finanziert, der berühme Gilles de Rais ist, der der größte Kindermörder und Kinderschänder ist, den es in Frankreich historisch jemals gegeben hat. Diese Ebene spielt zumindest subkutan eine ganz große Rolle.

Meyer: Insgesamt gesehen erzählt die Oper eine Erlösungsgeschichte, erzählt sie davon, dass das Heil nur im Himmel zu finden ist, ist es eine katholische Oper?

Hegemann: Sie ist insofern eine katholische Oper, als sie den Konflikt erzählt zwischen dem Heil im Himmel, zwischen der Erlösung im Tod und dem Leben-Wollen. Johanna widerruft ja ihre göttliche Sendung, um am Leben zu bleiben. Und dann widerruft sie den Widerruf, weil sie weiß, sie hat keine andere Möglichkeit, sie muss sich dem Himmel vermählen, wie es dann am Ende heißt.

Meyer: Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" hat über diese Jeanne-d'Arc-Oper von Walter Braunfels geschrieben, das sei ein bitteres, ein wildes Spätstück und diese Musik überwältigt, sie macht sprachlos, sie macht ratlos. Ich weiß nicht, was Sie von dieser Beschreibung halten. Was würden Sie sagen, wie ist die Musik dieser Oper?

Hegemann: Ich freue mich erst mal, wenn das so wahrgenommen worden ist. Die Musik ist widersprüchlich. Man könnte sagen, ohne das abwertend zu meinen, eklektizistisch. Sie knallt liturgische, moderne, fast musicalhafte Elemente und natürlich Strauss und Wagner auf eine so eigenständige Weise gegeneinander, dass etwas entsteht, was man tatsächlich so noch nie gehört hat. Und sie ist verzweifelt. Das heißt, sie scheitert an den Widersprüchen. Gilles de Rais, auch der arme König von Frankreich, der Karl, die möchten eine Gewissheit haben, und diese Gewissheit soll ihnen Johanna, die Wundertäterin, herstellen, aber das Gegenteil passiert. Denn Wunder sind ambivalent. Vielleicht drückt sich in ihnen Gottes Wirken aus, es kann aber auch Betrug sein. Und an diesem Widerspruch arbeitet er sich ab. Die Notwendigkeit zu glauben, die auch den Nationalsozialismus ja irgendwo auszeichnet, kommt bei ihm in einer anderen, eben katholischen Form auch wieder.

Meyer: Carl Hegemann, aus ersten Berichten über Ihre Inszenierung war zu erfahren, dass es da eine echte Kuh, norddeutsches Fleckvieh auf der Bühne geben wird, dass es ein ausgestopftes Pferd für die heilige Johanna geben soll, außerdem viele Videos vom Liebesleben der Amöben und von Leichenverbrennung in Nepal. Das klingt sehr vielfältig. Gibt es denn so etwas wie eine leitende Idee, eine Grundidee dieser Inszenierung, wie Sie umgehen wollen mit dieser Oper?

Hegemann: Also diese Oper ist ja genauso gut, wie sie eine Oper ist, auch ein Passionsspiel, nachgerade eine Liturgie des Leidens. Wir haben das eine Passion der Ambiguität genannt, und es hat viele rituelle Elemente.

Meyer: Was bedeutet das, diesen Begriff, den Sie da gefunden haben?

Hegemann: Eine Passion der Zwiespältigkeit. Nicht einfach des Leidens und der Nachfolge Christi, sondern der Ungewissheit und der Zwiespältigkeit, dass man – und das ist das ganz Moderne – dass man einfach nicht weiß, woran man sich halten soll. Und das wird jetzt aber in einer quasi religiösen Weise gefeiert. Das Vorbild dafür liegt tatsächlich in Nepal, da war Christoph Schlingensief im Dezember, Januar, und dort sind solche Sachen, wie wir sie jetzt als Heiligengeschichte bei der Johanna lesen, so was wie Alltag. Da werden die Menschen, wenn sie gestorben sind, unmittelbar nach ihrem Tod auf der Straße verbrannt. Ehebrecherische Frauen werden auch bei lebendigem Leibe verbrannt. Und so wie das Christoph erzählt hat, gehört das einfach zum Alltag. Während es bei uns ja überhaupt nicht zum Alltag gehört, sondern in die Privatsphäre oder in die Anonymität der Krankenhäuser abgeschoben wird.

Meyer: Das heißt, Sie stellen diese Oper, wenn ich Sie richtig verstehe, über den katholischen Kontext hinaus in einen Kontext allgemeiner Religiosität auf unserer Erde?

Hegemann: In einen Kontext der menschlichen Bestimmung, in der Welt etwas zu tun in dem Bewusstsein, dass man eines Tages nicht mehr da ist.

Meyer: Walter Braunfels, das ist ja eine Art Wiederentdeckung dieses Komponisten, jetzt hoffentlich führt sie dazu. Sie haben schon erwähnt, dass Walter Braunfels in den 20er-Jahren sehr viel gespielt wurde, neben Richard Strauss der am häufigsten aufgeführte Komponist war. Warum wurde Braunfels damals so geschätzt?

Hegemann: Ich glaube, weil er eine Musik gemacht hat, die auch für den Laien hörbar ist, die sich gegen Hindemith und Schönberg gewandt hat, die also durchaus ein populäres, aber anspruchsvolles Element hatte. Er hat allerdings dann in seinen Kompositionen, wie man an dieser Oper auch merken kann, durchaus die neue Musik offensichtlich rezipiert und etwas Eigenes daraus gemacht. Er hat allerdings interessanterweise mit solchen Hindemith-Motiven eher die bösen Figuren dieser Oper charakterisiert. Die guten Figuren singen noch ungebrochen in den alten Harmonien.

Meyer: Er war ja kein im engsten Sinne avantgardistischer Komponist. Warum haben ihn die Nationalsozialisten eigentlich sofort 1933 aus dem Amt gejagt?

Hegemann: Er hatte mal, ich weiß es auch nicht genau, aber er hatte mal vor 1923 oder so einen Auftrag bekommen, eine Hymne für die Partei zu schreiben. Das hat er abgelehnt. Sie haben behauptet, er hätte in seiner Musikhochschule, wo er Rektor war, in Köln, alles mit Juden besetzt. Das ist aber reine Propagandageschichte. Er war halt jemand, der durchschaut hat, dass der Nationalsozialismus etwas ist, mit dem er nicht zusammenarbeiten kann. Formell war er auch das, was man als Halbjude bezeichnete, sein früh verstorbener Vater war Jude. Deshalb wurde er einfach kaltgestellt, ohne deportiert oder in die Emigration zu müssen. Deshalb war er dann in der inneren Immigration am Bodensee. Und wenn man die Musik hört, dann merkt man das auch, dass er das losgelöst von der allgemeinen musikalischen Entwicklung geschrieben hat. Allerdings mit erkennbaren Motiven, die er vielleicht aus dem Alliiertenradio hat, amerikanische Jazz-Musik.

Meyer: Diese Figur, mit der sich Walter Braunfels beschäftigt in dieser Inszenierung, Sie haben uns beschrieben, welche Deutung er dieser Jeanne D'Arc gibt. Sie hat ja im 20. Jahrhundert ganz verschiedene Künstler beschäftigt. Bei Jean Anouilh war sie ein einfaches Mädchen aus dem Volk, bei Bertold Brecht war sie eine Aktivistin der Heilsarmee. Es gibt eine noch relativ junge Kinofassung von 1999 von Luc Besson, da ist sie eine Frau, die mit den eigenen Fehlern und Zweifeln kämpfen muss, auch in Glaubensdingen. Haben Sie eine Theorie, warum dieses ja auch erstaunliche anhaltende Interesse für diese 500 Jahre alte Figur kommt, bis heute?

Hegemann: Also ich glaube, dass jeder Mensch, der überhaupt etwas tun will in der Welt, mit dem Grundproblem der Johanna konfrontiert ist. Ist es einfach narzisstischer Größenwahn, ist es eine fremde Bestimmung, ist es ein Autonomiebestreben, und auf der anderen Seite dann, wie scheitert das? Notwendig ist, dass es scheitert. Jeder scheitert, sagen wir, jeder ist eines Tages ausgeliefert seiner Endlichkeit, dem Sterben-Müssen. Und deshalb ist dieser Konflikt bei der Johanna exemplarisch ins Extrem getrieben. Es gibt andere Geschichten, die sich um die Johanna ranken, zum Beispiel, dass sie angeblich fünf Jahre nach ihrem Tod lebendig wieder aufgetaucht ist. Das interessiert keinen Mensch. Es interessiert nur dieser Konflikt, ich möchte Großes tun, ich bin bestimmt zu Höherem, ich kann Frankreich retten und der Absturz. Der Mensch zwischen Triumph und Leiden.

Meyer: Am Sonntag wird an der Deutschen Oper Berlin das Werk "Jeanne d'Arc - Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna" von Walter Braunfels szenisch uraufgeführt nach einem Regiekonzept von Christoph Schlingensief. Ulf Schirmer ist der Dirigent, und ich habe mit Carl Hegemann aus dem Regieteam der Inszenierung gesprochen. Herzlichen Dank an Sie, Herr Hegemann.

Hegemann: Ja, auch danke.