Mehrfach gebrochene nationale Identität

Von Bernhard Doppler |
Die Öffnung zur Freien Szene, zu Workshops und theatralischen Dokumentationen ist auch 2012 Bestandteil der Wiener Festwochen. Ein beliebtes Sujet ist dabei das Spiel mit nationalen Identitäten. Aber nicht alle Produktionen stellen eine ernsthafte Alternative zum Hauptprogramm dar.
Das 160 Meter über Wien um den Donauturm rotierende Cafehaus, ein Bau aus den 60er Jahren, ist für ein Theater ein denkbar ungeeigneter Ort, so schmal nämlich, dass gerade eine Sitzgruppe zwischen Turmmauer und Aussichtsfenster Platz hat.

Die neun Wahlösterreicher in Oleg Soulimenkos Performance „Made in Austria“ müssen also von Sitzgruppe zu Sitzgruppe gehen und immer wieder von Neuem an diesem Abend ihre erfolgreiche Lebensgeschichte erzählen; im Donauturm-Cafe also neun Geschichten simultan, alle gleich lang – bis zum nächsten Wechsel. Manchmal hört man, während man etwa vor einer philippinischen Krankenschwester sitzt, von der Gruppe nebenan die Zwerchfell-Übungen der armenischen Opernsängerin von vorhin, oder das Gitarrespiel des amerikanischen Models. Die für „Made in Austria“ ausgewählten Wahlösterreicher sind alle in gewisser Weise Performer und führen – sehr sympathisch – ihre Berufe vor und nebenbei, wie selbstverständlich eine mehrfach gebrochene nationale Identität sein kann.

Harmlos nett ist auch das Projekt „Österreicher integriert euch“ der Gruppe „God´s Entertainment“ für das explizit nur Österreicher zugelassen sind. Österreicher können in diesem Projekt in einem „Integrationslager“ „Integrationskurse“ besuchen, um mit Ausländern zurecht zu kommen. Integration also einmal umgekehrt. Nach einem Einstufungstest, in dem der Grad des „Integrationsbedarfs“ ermittelt wird – Tests, die danach fragen, wie weit man treffsicher Ausländer erkennt und welche Sympathiepunkte man dabei vergibt – kann man in den Kursen Lebensgewohnheiten von Ausländern kennen lernen, mit ihnen diskutieren und – pädagogisch korrekt – mit Vorurteilen spielen, etwa überprüfen, ob Afrikaner tatsächlich anders riechen, Türkinnen beim Ankleiden zusieht, Sintis nach der Zukunft befragen usw.

Auch mit der Lebensart der „Piefkes“, deutscher, also ausländischer Studenten in Wien, kann sich der integrationswillige Österreicher vertraut machen. Wenn auch das Kursangebot zaghafter angenommen wird, die Integrationslager an mehreren Plätzen in der Stadt haben viele Passanten neugierig gemacht. Doch gegenüber dem legendären Schlingensief-Projekt vor zwölf Jahren ("Ausländer raus"), in denen von Abschiebung bedrohte Ausländer in einem Container wie im „Dschungelcamp“ aus Österreich herausgewählt werden konnten, ist „Österreicher, integriert euch!“ beliebig und tut niemand weh.

Die Öffnung zur Freien Szene, zu theaterpädagogischen Workshops und theatralischen Dokumentationen ist also 2012 auch selbstverständlicher Bestandteil eines Hochkulturfestival wie der Wiener Festwochen, eine ernsthafte Alternative zum Hauptprogramm stellen beide Produktionen aber kaum dar.

Irritierender ist da die Arbeit von Árpád Schilling, vor allem schon, weil man nicht weiß, wie dokumentarisch, wie fiktional, wie pädagogisch, wie theatralisch der Abend ist. Der in ganz Europa höchst renommierte ungarische Schauspiel- und Opernregisseur (bei den Wiener Festwochen 2005 mit Tschechows „Möwe“ gastierend) hatte 2008 ganz dem professionellen Theater abgeschworen und sich nur auf pädagogische Arbeit, neue Medien und Workshops vor allem mit Laien konzentriert. In seinem Projekt „Krisis 3 – Die Priesterin“ wird dies auch Thema.

Es geht um Unterricht: um die Arbeit einer Theaterpädagogin aus der Budapest mit 14 Kindern aus Transsylvanien. Sie kommt mit ihrem Sohn aus der Großstadt in das Dorf und muss sich gegen den bigotten Pfarrer und einen frustrierten autoritären Gymnastiklehrer durchsetzen. Dabei werden nicht nur die 14 Kinder, sondern auch das Festwochenpublikum von der Theaterpädagogin in ihre Übungen einbezogen, die bisweilen ein wenig an „Selbsterfahrungsseminare“ der 80er Jahre erinnern: Meditationen, bei denen man mit geschlossenen Augen fragmentarische Sätze zu Ende denken soll, wie „Mein schrecklichstes Erlebnis war, als ich...“, „Mein größter Wunsch ist...“.

Wie die Schüler, müssen auch die männlichen Zuschauer mit der Hand aufzeigen, wenn sie den Wunsch verspüren, einmal mit einer japanischen oder afrikanischen Frau zusammen zu sein. Das ist ein wenig peinlich. Und doch ist der Abend äußerst präzise mit den 14 Jugendlichen inszeniert, und die eingeblendeten ruhigen Filme über das Dorf, seine Bewohner und ihre Vorurteile bewirken, dass ein verstörender nachdenklicher Eindruck zurückbleibt. Fast ist es dann doch wie in einem Tschechow-Stück: Provinz und Metropole als Sehnsuchtsort, Pädagogik und ihr Scheitern: Krisis.
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