Mehr Wildnis in Europa

Wie Natur wieder Natur werden kann

Naturlandschaft Lieberose in Brandenburg.
Naturlandschaft Lieberose in Brandenburg. © picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Von Sonja Bettel · 28.05.2015
Wildnis war noch vor 150 Jahren der Ort der großen Bewährung: "Dort draußen" in der Wildnis kämpfte der Mensch gegen die Gewalt. Mittlerweile ist der Mensch die Gewalt, die Wildnis ist nur noch ein kleines umhegtes Gebiet. Doch die Wildnis soll wieder wachsen.
Europa ist einer der dichtest besiedelten Kontinente der Erde. Europäische Landschaften werden seit Jahrtausenden genutzt, deshalb sind naturnahe Gebiete hier stark fragmentiert. Echte Wildnis, also Natur, die ganz sich selbst überlassen ist, ist nur kleinräumig oder in siedlungsfeindlichen Gebieten erhalten. Geschützte Wildnisgebiete umfassen nur etwa ein Prozent der Landfläche Europas. Wildnis spielt jedoch eine wichtige Rolle zur Erhaltung gefährdeter Arten und Lebensgemeinschaften, natürlicher Dynamik und für den Schutz von Ökosystemleistungen. Sie sollte außerdem erhalten werden, um auch nachfolgenden Generationen von Menschen echtes Naturerleben zu ermöglichen.
Doch hat Wildnis überhaupt noch Platz in Europa? Ja, sagen Wildnisinitiativen und das Europaparlament. Sie haben deshalb begonnen, Maßnahmen zu setzen, um bestehende Wildnis zu erhalten und neue wilde Regionen zu schaffen.
Das Wildnisgebiet Dürrenstein in Niederösterreich. Hoch in den Himmel ragen Buchen, Fichten, Erlen und andere Baumarten mit üppigem Grün. Auf dem Boden liegen umgestürzte, vermodernde Stämme, auf denen Pilze, Moose und Käfer gedeihen. An den noch stehenden abgestorbenen Bäumen wachsen Baumschwämme, die in ihrer Form an Ufos erinnern.
Außer ein paar Wegen und wenigen Schildern, die über Wildnis und Eulen informieren, gibt es hier keine Infrastruktur und auch keine menschliche Nutzung wie Holzschlag, Jagd, Beweidung oder Wasserkraft. Stattdessen gibt es 3.500 Hektar Lebensraum für Bäume, Sträucher und Gräser, Moose und Pilze, Insekten und Vögel, Füchse, Gämsen, Wanderfalken und Fledermäuse. Sogar Steinadler, Habichtskauz, Luchs, Wolf und Braunbär leben hier.
Im Herzen des Wildnisgebietes befindet sich der "Rothwald". Mit seinen rund 400 Hektar Fläche ist er der größte Urwald Mitteleuropas. Schon 1875 erkannte der damalige Besitzer, der Bankier Albert Rothschild, den ökologischen Wert des unberührten Waldes und erklärte ihn zum schützenswerten Urwald. Der Rothwald ist Österreichs einziges strenges Naturreservat nach Kategorie 1a der Weltnaturschutzunion IUCN. Das bedeutet, dass er nur für Verwaltung und Forschung betreten werden darf.
"In Österreich sind weniger als drei Prozent der Wälder in einem Urzustand, in einem naturnahen Zustand, und weniger als drei Prozent der Wälder werden auch forstlich nicht genutzt", sagt Naturschützer und Wildnisfotograf Matthias Schickhofer. Das sei viel zu wenig. Schickhofer hat schon zahlreiche Urwälder in aller Welt besucht, sie fotografiert und 2013 einen Bildband über Urwälder in Österreich veröffentlicht.
"Es wäre aber notwendig, um die Artenvielfalt zu erhalten, um auch das Erbgut, das an den Standort angepasste genetische Erbgut für die verschiedenen Waldgesellschaften zu erhalten, ein dichtes Netz von Schutzgebieten zu etablieren, um diese Naturwaldreste als Bastionen der Artenvielfalt und als Zufluchtsort für Artenvielfalt und auch für die genetischen Ressourcen zu erhalten. Und diese Reservate zu vernetzen, über Korridore, Altholzinseln, da gibt es verschiedene Konzepte, um einen Austausch dieser Arten und eine Wanderung dieser Arten zu ermöglichen."
Nur ein Prozent der Landfläche Europas sind geschützte Wildnis
Das gilt für ganz Europa und nicht nur für Waldökosysteme. In Europa ist nur ein Prozent der Landfläche geschützte Wildnis. Das sind rund 105.000 Quadratkilometer. Viele Menschen wissen gar nicht, dass es überhaupt noch wilde Natur in Europa gibt. Selbst unter Fachleuten war das viele Jahre umstritten, sagt Bernhard Kohler, der bei der Naturschutzorganisation WWF Österreich für den Bereich Biodiversität zuständig ist:
"In Europa war die Diskussion sehr davon geprägt, dass man gesagt hat, es gibt eigentlich keine primäre Wildnis mehr, weil Europa seit vielen Jahrtausenden besiedelt ist, ackerbaulich, landwirtschaftlich genutzt wird und es eigentlich kaum mehr Flecken in Europa gibt, die nicht zu irgendeinem Zeitpunkt von Menschen beeinflusst oder verändert worden sind. Man hat traditionellerweise gesehen, also gut, wir haben ganz kleine Naturlandschaftsreste, zum Beispiel naturnahe Wälder oder Moore, aber man hat sich nicht drüber getraut zu sagen, wir haben Bereiche wo natürliche Prozesse frei ablaufen dürfen. Das Entscheidende bei Wildnisgebieten ist nicht so sehr, dass es ganz ursprüngliche Gebiete sind, sondern dass in diesen Gebieten die Natur wieder freien Lauf hat und sich frei entfalten kann."
Seit einigen Jahren wird intensiver über Wildnis in Europa diskutiert, weil Ökologen und Naturschützer merken, dass es eng wird. Immer mehr Flächen werden durch Straßen, Wohnhäuser, Einkaufszentren und Parkplätze versiegelt oder für Land-, Forstwirtschaft und die Energiegewinnung genutzt. Der Mensch hat dadurch in vielen Bereichen die natürlichen Prozesse beeinflusst und die biologische Vielfalt verringert. Wildnis wird deshalb als Refugium für Arten und Ökosysteme immer wichtiger.
Ein Hund steht zwischen Bäumen im Wald.
Idyll im Kulturwald© Deutschlandradio / Dirk Gebhardt
Bernhard Kohler, WWF Österreich, Bereich Biodiversität: "Wildnis kann als Rückzugsort und als Entfaltungsort für jene Organismen und Lebensgemeinschaften gelten, die keine menschliche Nutzung vertragen. Das ist zum Beispiel im Wald ganz ausgeprägt, ungefähr ein Drittel der mitteleuropäischen waldgebundenen Biodiversität kommt mit menschlichen Eingriffen in den Wald mit der herkömmlichen Forstwirtschaft schlecht oder gar nicht zurecht. Ungefähr 10 Prozent der waldgebundenen Organismen sind so genannte Urwaldrelikte, die überhaupt keine Eingriffe vertragen. So gibt es das in vielen anderen Lebensraumtypen. Das Zweite ist, auch für Organismen, die gebunden sind an großflächig ablaufende natürliche Prozesse, die der Mensch aus Sicherheitsgründen oder aus wirtschaftlichen Gründen aus der Kulturlandschaft verbannt hat. Es gibt Organismen, die sind an großflächige Brände gebunden oder an Borkenkäfer-Massenvermehrungen."
Brände oder Massenvermehrungen von Borkenkäfern müssen in Wirtschaftswäldern sogar laut Gesetz bekämpft werden. Borkenkäfer sind jedoch ein wichtiger Teil des Ökosystems Wald. Sie bohren Gänge, die dann von anderen Organismen genutzt werden, sie sind Nahrung für Spechte und andere Vögel und scheiden durch ihren Befall kranke oder nicht an den Standort angepasste Bäume aus.
Auch Brände, die durch Blitzschlag verursacht werden, gehören zu den natürlichen Prozessen. Manche Samen können erst keimen, wenn ein Feuer über sie hinweggezogen ist. Außerdem schaffen Brände und Windwurf neue freie Flächen, die von jungen Pflanzen besiedelt werden können. Werden diese Prozesse verhindert, verändert sich ein Ökosystem.
Welche Bäume im Wald stehen bleiben entscheidet in der Nutzlandschaft der Förster
"Man muss sich ja vor Augen führen, dass die menschlichen Eingriffe in die Natur und Landschaft, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, andere Organismen und die Evolution anderer Organismen beeinflussen und lenken. Welche Bäume im Wald stehen bleiben entscheidet in der Nutzlandschaft der Förster und trifft damit bewusst oder unbewusst eine gewisse, auch genetische Auslese. Und die volle Bandbreite der evolutionären Entfaltungsmöglichkeiten ist nur gegeben wenn diese Einflüsse des Menschen wegfallen. Freiräume zu schaffen, wo diese Organismen sich über Generationen hinweg frei entfalten können, die Evolution frei ablaufen kann, ist einfach ganz, ganz wichtig", erklärt Kohler.
Das hat für Bernhard Kohler auch einen ethischen Aspekt, denn 50 Prozent der gesamten Biomasse in Europa verbrauche der Mensch mittlerweile für seine Zwecke. Das bedeute, die 10.000 anderen Organismen müssten sich mit den restlichen 50 Prozent begnügen.
"Und das ist einer der tieferen Gründe, warum es um die Biodiversität so schlecht bestellt ist. Ein bisschen eine fairere Aufteilung zu erreichen, ist auch ein Aspekt von Wildnisgebieten", sagt Kohler.
Im Oktober 2014 geht eine kleine Gruppe Wanderer in ein Tal, das zum Wildnisgebiet erklärt werden soll. Sie nehmen an den "European Wilderness Academy Days" in Mittersill im österreichischen Bundesland Salzburg teil. Es ist die erste Tagung des jungen Vereins "European Wilderness Society". Die Exkursion führt in das Untersulzbachtal im Nationalpark "Hohe Tauern", das von der kleinen Gemeinde Neukirchen am Großvenediger Richtung Süden führt. Am Anfang des Tals gibt es noch ein paar Almen, dann endet der Weg und es geht über Stock und Stein bis zum Gletscher, dem Untersulzbachkees, auf 2.360 Meter Seehöhe.
Nur wenige Bergsteiger gehen durch das Untersulzbachtal auf den Großvenediger, deshalb entfaltet sich die Natur hier ungestört. Die mehr als acht Stunden dauernde Wanderung bis zum Gletschertor und wieder hinunter ist anstrengend, Lawinen, Steinschläge und Hochwässer türmen hier regelmäßig große Felsblöcke auf, über die man klettern muss. Am Anfang gibt es noch kleine Bäume und Sträucher, am Ende nur noch Schotter und Sand vom Gletscher, der sich aufgrund der Klimaerwärmung immer mehr zurückzieht. Auf diesem Gletschervorfeld wächst erste zarte Pioniervegetation. Sehr zur Freude von Ferdinand Lainer, Mitarbeiter im Nationalpark Hohe Tauern:
"Wir planen hier ein großes Wildnisgebiet im Herzen der Venedigergruppe. Das Untersulzbachtal ist ein sehr ursprüngliches, wildes Hochgebirgstal mit enormer Dynamik von Gletscherbach, über Steinschlag und Lawinentätigkeiten. Wir finden hier sämtliche Lebensräume vom montanen bis in den subnivalen Bereich. Das Besondere hier ist, dass hier die unberührte Natur zu finden ist."
Das ist vor allem dem Verein "Naturschutzpark Lüneburger Heide" zu verdanken, der hier in den 1940er Jahren Flächen gekauft hat, um das Tal vor Erschließung zu bewahren. Nun soll das Untersulzbachtal eines der ersten Gebiete in Europa sein, das von der "European Wilderness Society" auf seine Wildnisqualität geprüft wird. Der Verein wurde im Herbst 2013 beim Welt-Wildnis-Kongress in Salamanca in Spanien gegründet und versteht sich als Dachorganisation für Naturschutzinitiativen aus Europa. Vorsitzender ist Zoltán Kun. Er ist Forsttechniker und Landschaftsarchitekt aus Ungarn:
"Der Verein identifiziert, bestimmt und fördert Wildnis in Europa und regelt sie auch. Kommunikation ist für uns sehr wichtig und das bedeutet auch Werbung. Während der Wilderness Academy Days hier in Österreich wurde klar, dass wir ein Bewusstsein für die Bedeutung von Wildnis in Österreich schaffen und das Wissen darüber erhöhen müssen. Wir müssen auch definieren, wo sich diese Gebiete befinden und arbeiten dafür mit wissenschaftlichen Organisationen wie der University of Leeds oder der Universität Klagenfurt zusammen. Wir bieten auch Instrumente für Manager von Schutzgebieten an, mit denen sie ihre Arbeit verbessern können."
Ein Bewusstsein für die Bedeutung von Wildnis
Die verschiedenen europäischen Initiativen für den Schutz der Wildnis und die zuständigen Behörden haben sich in einem zwei Jahre dauernden Prozess darauf geeinigt, was Wildnis für sie bedeutet. Das war nicht einfach, erinnert sich der aus der Slowakei stammende diplomierte Forstwirt Vlado Vancura, der bei der European Wilderness Society für Naturschutz zuständig ist:
"Zuerst mussten wir uns einigen, worüber wir überhaupt reden. Europa ist kulturell und historisch sehr vielfältigt, deshalb hat Wildnis in Spanien, Schweden und so weiter jeweils eine andere Bedeutung. In manche Sprachen kann man das Wort Wildnis nicht einmal übersetzen. Man braucht einen ganzen Satz, um zu beschreiben, was Wildnis bedeutet."
Anschließend hat man 500 Kriterien festgelegt, die eine Landschaft auf ihre Wildnisqualität hin bewerten. Dazu gehören dann unter anderem die Größe, die Lage, die biologische Vielfalt und die Fragen nach menschlicher Nutzung und menschlichem Einfluss. Will man für ein Gebiet, eine Bewertung durch die "European Wilderness Society" beantragen, muss man zunächst einen sehr langen Fragebogen ausfüllen. Fachleute überprüfen anschließend dann die Kriterien.
"Man muss sich diesen Prozess so vorstellen, dass dann drei, vier Leute wirklich bis zu 14 Tage sich in dem Gebiet aufhalten und das von oben bis unten durchkämmen. Das wird dann zusammengefasst, dann gibt es einen Abschlussbericht."
Max Rossberg ist stellvertretender Vorsitzender des Vereins und kümmert sich um die Kommunikation:
"In diesem Abschlussbericht sind aber auch nur in der Regel Handlungsempfehlungen, denn es gibt kein ja oder nein. Es kann nur sein, ja noch nicht ganz, wenn du das oder das aber machst, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Und wir haben natürlich auch erkannt, dass nicht alles über einen Kamm geschoren werden kann, deshalb haben wir vier verschiedene Kriterien, dieses Bronze, Silber, Gold und Platinum, wo ein Gebiet, so wie in der Natur auch, den natürlichen Prozess durchläuft. Und je besser, je weniger die Einflussnahme des Menschen noch messbar ist, umso weiter steigt es quasi in diesen Kriterien an und genießt damit natürlich auch eine höhere Anerkennung in der Öffentlichkeit."
Vlado Vancura, Leiter Naturschutz European Wilderness Society, nennt Beispiele, womit diese verschiedenen Bewertungsstufen der Wildnisqualität von Bronze bis Platin erreicht werden können:
"Bronze gib einem Land die Möglichkeit mit der Bildung einer Wildnis zu beginnen – dazu braucht es die Mindestgröße von 500 Hektar. Für Platin muss man 10.000 Hektar bereitstellen. Das ist ein großer Unterschied, aber man kann schrittweise weiterkommen. Manche Gebiete werden nie mehr als Bronze erreichen, weil sie nicht größer als 1.000 Hektar werden können. In anderen Wildnisgebieten kann man angrenzende Grundstücke dazu nehmen, dort gibt es dann aber vielleicht noch Nutzungen also Schlägerungen oder Tierweiden und es dauert eine Zeit, bis das beendet wird. Die Bewertungen sind also ein flexibles Instrument, mit dem wir die verschiedenen Situationen in Europa berücksichtigen können."
Das Untersulzbachtal in den Hohen Tauern bildet gemeinsam mit den Talschlüssen von Krimmler Achental, Obersulzbachtal und Harbachtal sowie dem Gebiet rund um den Großvenediger und 70 anderen Gipfeln eine Fläche von 9.761 Hektar, die schon jetzt als Wildnisgebiet geeignet sind. Das zumindest sagen die Naturschutzorganisation WWF und die European Wilderness Society, die das Gebiet gemeinsam untersucht haben. Nun geht es darum, die noch bestehenden Jagd- und Weiderechte abzugelten oder zu verlagern. Wenn es gelingt, in weiteren angrenzenden Flächen jegliche menschliche Nutzung einzustellen, könnte das Wildnisgebiet in den Hohen Tauern vielleicht sogar das goldene Wildnis-Zertifikat erreichen.
Die Idee ist, Flächen, von denen sich die Gletscher aufgrund der Klimaerwärmung zurückziehen, zu schützen, bevor Nutzungsansprüche geltend gemacht werden. Bernhard Kohler.
Der Gletscher zieht sich zurück und der Mensch rückt nach
"In anderen Tälern zum Beispiel war es so, sobald sich der Gletscher zurückzieht, rückt der Mensch nach, kommen die Schafherden, kommen die Weiden. Hier ist es wirklich so, dass man jungfräulichen Boden betreten kann. Mitten in Mitteleuropa kann man jungfräuliches Land betreten, das seit 8.000 Jahren eisbedeckt ist. Vor 8.000 Jahren gab es eine Phase wo Gletscher auch ähnlich weit zurückgerückt waren oder sogar noch weiter und dann sind sie wieder vorgerückt, haben das Land bedeckt mit Eis, und jetzt wird das wieder frei."
Das klingt vielleicht sehr negativ aus Sicht des Menschen in Bezug auf Ressourcen, Infrastruktur und unsere Lebensweise, räumt Steve Carver, Geograph an der University of Leeds und Direktor des Wildland Research Institute ein:
"Es gibt aber etwas Positives in Hinsicht auf Ökosystemleistungen. Gebiete, in denen natürliche Prozesse vorherrschen, haben Vorteile für den Menschen als Kohlenstoffspeicher und für die Wasserqualität. Wildnisgebiete liefern gutes Trinkwasser stromabwärts und sie dienen dem Hochwasserschutz, sie puffern Starkniederschläge. Damit sind sie wichtig für die Ökologie und auch für das Wohlbefinden, weil sie Räume für Erholung bieten. Wildnis ist also nicht schlecht für den Menschen, sondern sie hat sehr viele positive Seiten."
Genau deshalb ist es wichtig, bestehende Wildnis in Europa unter Schutz zu stellen und bereits unter Schutz stehende Gebiete zu erhalten, betont Steve Carver. Und es gebe gerade jetzt Chancen neue, sekundäre Wildnisgebiete zu gründen:
"Es gibt Gegenden in Europa, wo Ackerland und ländliche Räume aufgegeben werden. Das schafft potentielle Flächen für die Natur. Wir nennen das Verwilderung oder die Wiederherstellung von Lebensraum. Wenn wir zum Beispiel ein Netzwerk an bestehenden Wildnisgebieten haben, sollten wir sehr genau schauen, ob es nicht Landflächen dazwischen gibt, mit denen wir Korridore oder Trittsteine oder durchlässige Landschaften für Verwilderung schaffen können. Das bietet den Arten die Möglichkeit, zwischen diesen Landschaften zu wandern, statt wie jetzt in isolierten Schutzzonen bleiben zu müssen. Wenn wir ein derartiges Netzwerk schaffen, wird die Natur sich auch besser an den Klimawandel anpassen können."
Als Geograph setzt Steve Carver dafür auf die Macht von Karten. Denn nur, wenn man weiß, welches Land wie genutzt wird, wo sich Wildnisgebiete befinden und wo dazwischen Trittsteine sekundärer Wildnis nötig sind, habe man einen Plan:
"Also, erstellt man eine Karte. Ja, man macht alles, was nötig ist: bindet die Bevölkerung ein, kümmert sich um Wissensvermittlung und solche Sachen. Aber Entscheidungsträger, Politiker, Planer und Entwickler die brauchen Karten, um zu verstehen: hier kann ich dieses machen, hier kann ich jenes nicht machen, hier haben wir eine Chance. Und wenn wir dann zusammen arbeiten, dann klappt es auch."
Einst Truppenübungsplatz, jetzt Naturschutzgebiet
"Machen wir die mal auf und hängen die mal dran. Also hier stehen wir gerade, an dieser Stelle zwischen dem Bergsee und dem Ramalsee. Wir sind von hier gekommen, Straubitz, Butzen, und die Lieberoser Heide ist abgegrenzt durch diese rote Linie auf der Karte."
Heiko Schuhmacher, Projektleiter der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg, steht auf dem Schotterparkplatz der Lieberoser Heide und erklärt das Gelände. Die Lieberoser Heide war der größte Truppenübungsplatz in Ostdeutschland. Gegründet 1943 von den Nationalsozialisten, 1945 übernommen und erweitert von den Russen, dann weiter genützt bis 1992. 255 Quadratkilometer ist das Gebiet groß, das ist etwas kleiner als Bielefeld. 31,5 Quadratkilometer der Lieberoser Heide gehören seit dem Jahr 2006 der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg.
Baumstämme liegen gehäuft in einem Wald.
Für die Forstwirtschaft ist der Wald ein Holz-Feld© Jan-Martin Altgeld
Flächen für die Natur "bereit stellen" und dort die Natur "erlebbar" machen
Heiko Schuhmacher erklärt das Anliegen der Stiftung: "Wir haben eine Satzung, die besteht aus zwei großen Aspekten: Zum einen Flächen zu erwerben und die für die Wildnisentwicklung vorzubereiten bzw. derer auch zu widmen. Und zum anderen die Flächen auch dem Naturerleben teilweise zugänglich zu machen, also das Naturbewusstsein der Menschen zu fördern. Das versuchen wir hier schon wo wir gerade stehen am Parkplatz Bergsee, indem wir hier einen kleinen Wildnispfad eingerichtet haben. Den würde ich vorschlagen das wir den gleich abgehen, der ist nämlich wirklich sehr schön. Da kann man Wildnisentwicklung live erleben."
Die Lieberoser Heide ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die Möglichkeiten zur Schaffung neuer Wildnis aus aufgelassenen Flächen. Während der Nutzung durch die russische Armee fuhren hier Panzer und Lastwagen rum und es wurde mit verschiedener Munition geschossen. Es gab Betonbauten, Schießbahnen, Munitionslager, Kasernen und eine Bahnlinie. Ein größerer Teil der Heide wird für die Forstwirtschaft genutzt, wofür Kiefern-Monokulturen gepflanzt wurden. Außerdem führen zwei Bundesstraßen durch die Landschaft. Andererseits gab es auch schon zur Zeit der Nutzung als Truppenübungsplatz größere Bereiche, die völlig sich selbst überlassen waren. Es gibt Moore und Seen, die sich nach dem Ende der letzten Eiszeit gebildet haben, sowie eine riesige natürliche Sandfläche, die sogenannte Wüste. Die Lieberoser Heide bietet also eine Vielfalt an Lebensräumen. Heiko Schuhmacher:
"Die Stiftung Naturlandschaften Brandenburg hat die Flächen bei Lieberose in den Jahren 2003 bis 2006 käuflich erworben und seitdem dürfen sich auf großen Bereichen schon Wildnisentwicklung einstellen. Wir üben noch auf einzelnen Flächen Maßnahmen zur Auflichtung von Kiefernwäldern aus, das soll aber Ende 2015 abgeschlossen sein. Das heißt, ab dann sollen die weitaus überwiegenden Anteile, und da reden wir von 90 Prozent plus, der Stiftungsflächen in Wildnisentwicklung befindlich sein. Es gibt nur wenige Bereiche, wo wir sagen, da wollen wir keine Entwicklung zulassen oder da macht es keinen Sinn. Das sind beispielsweise die Flächen, wo Besucher hineingeführt werden, oder wo wir andere Funktionen auf diesen Flächen liegen haben, das betrifft hier beispielsweise einen Waldbrandschutzstreifen."
Der Schutzstreifen dient dazu, die Waldflächen angrenzender Besitzer und Siedlungen vor eventuellen Waldbränden zu schützen, die auf der Wildnisfläche nicht gelöscht werden. Die Kiefern müssen stellenweise ausgelichtet werden, weil sie künstlich dicht gepflanzt wurden und dazwischen keine anderen Bäume aufkommen konnten. Ansonsten darf die Natur hier tun, was sie will. Wie spannend die natürliche Dynamik ist, kann man entlang des Wildnispfades bereits erkennen:
"Gut, gehen wir mal hier links gleich an den See. (ATMO gehen) Schon den Einstieg hier in den Weg finde ich selber total klasse, weil man hier so richtig große Eichen zu sehen bekommt, die schon eine gewisse Form haben und eine Struktur. Da kann man sich schon vorstellen, wie Urwaldeichen aussehen. Und dahinter geht es weiter dass wir Wildnisentwicklung erkennen können. Da ist der Seerandbereich und da können wir sehen, wie der See durch die zunehmenden Niederschläge ab 2010 sich diesen Randbereich zurückgeholt hat."
"Nur totes Holz" für die Menschen, aber Lebensraum für die Tiere
Als der Randbereich trocken war, haben Erlen die Uferzone besiedelt. Früher wurde das Gebiet hier künstlich entwässert, damit die Bevölkerung Grünfutter aus dem Wald holen kann. Nun wurde der Abfluss geschlossen und der See konnte sich wieder kräftig mit Wasser füllen. Die Erlen stehen nun im Wasser und sterben ab, erklärt Schuhmacher:
"Die Erlen sind abgestorben, aber das ist ein wunderbarer und ganz hervorragender Lebensraum für ganz, ganz viele Tiere. Es heißt Totholz immer, aber eigentlich ist dies Holz überhaupt nicht tot, sondern sehr lebendig. Es leben hunderte Insektenarten am Totholz, bei der Eiche sind es sogar tausende, und natürlich auch Vogelarten. Die Spechte beispielsweise (Vogelstimmen) die (Vogelstimmen) – ich höre gerade einen Seeadler rufen hinter uns, dieses kjok-kjok, das ist der Seeadler. Ja, und wir können beispielsweise seit drei Jahren den Mittelspecht wieder begrüßen, der eine Art ist, die sehr stark ans Totholz gebunden ist, genauso der Kleinspecht, und das freut uns sehr, und insofern haben wir den Mittelspecht als kleines Wappentier für diesen Wildnispfad erkoren und der Mittelspecht begleitet die Menschen mit diesem kleinen Symbol über die Wegweiser und Infotafeln."
Links vom See entsteht schon jetzt anstelle der Kiefern-Monokultur eine bunte Mischung aus Birken und anderen Baumarten gepaart mit üppiger Bodenvegetation. Am und auf dem See leben mittlerweile Vögel wie Erlenzeisige, Schwäne, Graugänse, Schellenten, Schnatterenten, Krickenten, Schwarzspechte, Kraniche, Bekassinen oder Pirole. Einige von ihnen sind seltene oder zählen zu den gefährdeten Arten. Auch Fischotter und Biber haben sich angesiedelt. Ein Stück weiter am Wildnispfad kann man sehen, wie jenseits des Bergsees, getrennt durch einen kleinen Damm, wieder ein Moor entsteht. Während der Trockenlegung des Feuchtgebietes sind Erlen gewachsen. Heiko Schuhmacher erklärt, was hier passieren wird, weil der sogenannte Butzener Bagen jetzt wieder Wasserzulauf hat:
"So jetzt ist es aufgestaut worden, seit 2006 ist das der Fall. Die Erlen haben das in der Regel nicht überlebt, dazu steht das Wasser zu hoch, wir haben hier einen Wasserstand von ungefähr einem halben Meter. Und das wird jetzt hier zusammenfallen irgendwann, das Totholz, es entwickelt sich an einzelnen Stellen Nachwuchs auf den kleinen Inselchen, und ansonsten wird hier auch in großen Stile Moorbildung einsetzen. Das heißt, es werden hier Torfmoose wachsen, es wird hier ein Buchwaldtorf geben zum Teil, und später dann ein Torfmoostorf. Und die sind schon in der Lage das Ganze zu überwachsen. Und wir werden sehen was hier kommt. Das ist Wildnis."
Wieviel Wildnis leistet sich das Land
Wie sich das anfühlt, inmitten dieser Wildnis zu stehen in ihrer Vielfalt, Reichhaltigkeit und Schönheit, lässt sich kaum beschreiben. Wunderschön, das trifft es wohl am besten. Schlagartig wird einem jedenfalls klar, dass es wichtig ist, diese Wildnis zu erhalten, ihr mehr Platz einzuräumen. In Deutschland ist laut Nationaler Biodiversitätsstrategie von 2007 vorgesehen, dass bis zum Jahr 2020 zwei Prozent des deutschen Territoriums Wildnisgebieten sind und dass fünf Prozent der Waldfläche in natürlichem Zustand sein sollen. 2013 waren erst 1,9 Prozent des Waldes in den Naturzustand zurück versetzt. Wie dieses Ziel zu schaffen wäre, erklärt Manfred Klein vom Bundesamt für Naturschutz:
"Eine Prognose für 2020 beinhaltet, dass wir es schaffen 2,3 Prozent zu erreichen, sodass wir 2020 das ambitionierte Ziel in der Strategie wohl nicht erreichen, aber nicht nachlassen in unseren Bemühungen, alle Akteure mit für dieses Ziel zu engagieren und arbeiten hin, dass wir diese fünf Prozent erreichen werden."
Wieviel Wildnis es derzeit in Deutschland gibt, ist nicht bekannt. Wo neue Wildnis geschaffen werden könnte, wird in einem laufenden Projekt untersucht. Die Bevölkerung sei jedenfalls an Wildnis interessiert, sagt Manfred Klein vom Bundesamt für Naturschutz. Bei der im Jahr 2013 vom Bundesamt durchgeführten Naturbewusstseinsstudie habe sich gezeigt, dass sich in Deutschland viele Menschen zum Wildnisziel bekennen und dafür auch gewisse Einschränkungen ihres persönlichen Verhaltens in Kauf nehmen würden.
Vorsitzender der European Wilderness Society, Zoltan Kun, hat sich persönlich das Ziel gesetzt, dass fünf Prozent der Landfläche Europas Wildnis werden und somit genauso viel Fläche, wie durch Straßen, Häuser, Industrie und Infrastruktur in Anspruch genommen werden. Er glaubt, dass dieses Ziel erreicht werden kann. Dafür sei jedoch eine neue gesellschaftliche Haltung in ganz Europa nötig.
Zoltán Kun, Vorsitzender European Wilderness Society:"Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass die Natur uns braucht. Wir müssen akzeptieren, dass sie sich ohne uns entwickeln kann. Wir Menschen sind Teil der Natur, aber wir sind nicht dazu da, sie zu kontrollieren. Ich glaube, wir können am meisten erreichen, wenn wir es schaffen, die Hirne und Herzen der Menschen zu verwildern."
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