Mehr Vielfalt für die Einheit

Peter J. Weber im Gespräch mit Jürgen König |
Obwohl sich die EU verpflichtet habe, die Sprachenvielfalt zu achten, fände man beispielsweise in Bereichen der Webseite vorwiegend englische Texte, kritisiert Peter J. Weber. Der Professor für Wirtschaftskommunikation verweist auf die postulierte Gleichrangigkeit der 23 zugelassenen Amtssprachen. Er hat über die Problematik ein Buch geschrieben.
Jürgen König: 27 Mitglieder hat die Europäische Union, 23 offizielle Amtssprachen werden in ihr verwendet. Hinzu kommen etwa 90 Regionalsprachen, Minderheitensprachen, in Spanien zum Beispiel sind es Katalanisch, Baskisch und Galizisch. Alle drei wurden als Vertragssprachen anerkannt, was in jedem Jahr anderthalb Millionen Euro kostet, die ausgegeben werden für zusätzliche Übersetzungen. Das beschreibt Peter J. Weber in seinem Buch "Kampf der Sprachen. Die Europäische Union vor der sprachlichen Zerreißprobe". Peter J. Weber ist Professor für internationale Wirtschaftskommunikation an der Hochschule für Angewandte Sprachen (SDI) in München. Herr Weber, guten Morgen!

Peter J. Weber: Guten Morgen, Herr König!

König: 27 Nationen, 23 Sprachen. Sie haben jahrelang in Brüssel gelebt, dort wissenschaftlich gearbeitet. Wie haben Sie den sprachlichen Alltag in Brüssel erlebt?

Weber: Brüssel ist ein wunderbares Mikrolabor für die Europäische Union, denn Brüssel ist eine offiziell zweisprachige Stadt. Man spricht dort französisch und niederländisch oder flämisch, die Variante des Niederländischen in Belgien. Und Sie haben natürlich in Brüssel auch noch eine hohe Anzahl von Immigranten. Dazu kommen dann eben Sprachen wie Türkisch, wie Marokkanisch und andere mehr. Und dazu haben Sie noch die EU-Institutionen, in denen nun auch – wie Sie eingangs erwähnten – die Gleichrangigkeit der Sprachen, der offiziellen Amtssprachen herrscht, sodass Sie, wenn Sie durch die Flure oder durch die Aufzüge der Europäischen Union gehen, sehr viele Sprachen hören. Sie gehen raus und haben dann noch einmal das nächste Sprachenbad, nämlich das Belgische.

König: Nun sagen Sie, die EU steht vor einer sprachlichen Zerreißprobe, das kann sich nicht allein auf die Zustände in Brüssel beziehen. Inwiefern steht sie das?

Weber: Nicht nur, natürlich ist wie gesagt Belgien ein Labor, ein kleines Mikrolabor, denn Belgien lebt ja schon lange in einer Art Zerreißprobe – der Flamen-Wallonen-Konflikt ist ja bekannt. Für die EU stellt sich aber die Herausforderung: Wie geht sie mit dieser Gleichrangigkeit um der 23 offiziellen Amtssprachen, das heißt, inwieweit kann sie diese ganzen Übersetzungsdienstleistungen leisten letztlich. Wie geht sie dann mit ihren Regional- oder Minderheitensprachen um, wie weit kann sie diese fördern? Und wie reagiert sie dann auf die Globalisierung, nämlich der zunehmenden Bedeutung des Englischen. Geht sie in die Richtung eben in eine, sagen wir selektiven Mehrsprachigkeit oder will sie eben die Mehrsprachigkeit, so wie sie hier herrscht, durchsetzen und weiter pflegen?

König: Damit haben Sie den ganzen Themenkuchen sehr schön beschrieben. Gehen wir die Sache der Reihe nach durch. In diesen 23 Amtssprachen kann der Bürger ja alle Organe der EU kontaktieren, dieses Prinzip ist durch EG-Vertrag geregelt. Die EU hat also erklärt, und das ist ja auch sinnvoll, um ein gewisses Maß an Bürgernähe zu gewährleisten, hat die EU erklärt, die Sprachen und Sprachenvielfalt zu achten und zu respektieren. Das heißt, all diese Amtssprachen, regionale und Minderheitensprachen, bedürfen doch der Förderung?

Weber: Das ist richtig, insbesondere natürlich die Regional- oder Minderheitensprachen, die lange Zeit vergessen waren. Die Europäische Union hat seit dem Februar 2007 eine politische Agenda für Mehrsprachigkeit, in der zum Beispiel auch drinsteht, dass die Kommunikation mit den EU-Bürgern zu verbessern ist, nämlich dass ihre Webseiten vermehrt mehrsprachig anzubieten sind.

König: Gut, aber Sie schreiben jetzt, die von der EU propagierte These von der Einheit in der Vielfalt sei kaum mehr tragbar, sie verkäme zur blanken Willkür. Inwiefern?

Weber: Inwiefern? Wenn Sie gestern am 14. April auf der Portalseite der EU gewesen waren und nehmen Sie dann unsere Sprache im Moment, die wir sprechen, Deutsch, eine Konvention, und da gibt es ein kleines Fenster "Im Brennpunkt". Wenn Sie weitergelesen haben, haben Sie festgestellt, dass der nächste Text nur in englischer Sprache erscheint. Wenn Sie sich die Mühe dann gemacht haben, durch die 23 Amtssprachen durchzuklicken, haben Sie festgestellt, dass "Im Brennpunkt", der Ihre Gesundheit im Übrigen betrifft, auch nur in englischer Sprache ist. Sie können oder dort wurden seit 31. März, also gut 14 Tage, die Neuigkeiten nur in englischer Sprache gepostet. Das bedeutet, also hier haben wir im Prinzip ja schon eine gewisse Selektion einer bestimmten Sprache, auch von Informationen. Wenn Sie nun als Bürger dieser Sprache des Englischen nicht so mächtig sind, erfahren Sie eben genau das nicht über Ihre Gesundheit.

König: Das heißt, für Sie besteht das Problem darin, dass es auf der einen Seite immer mehr Regionalsprachen gibt, die als offizielle Amts- und Vertragssprachen anerkannt werden, und es gleichzeitig in den EU-Organen die Entwicklung hin praktisch zur Einsprachigkeit gibt, zum Englischen?

Weber: Zumindest zu einer pragmatischen Dreisprachigkeit. Wenn Sie in der Tat die offiziellen Seiten nehmen der Europäischen Union, haben Sie eine zunehmende Dominanz des Englischen. Regional- oder Minderheitensprachen werden sicherlich nicht in den Status offizieller Amtssprachen kommen, denn das ist durch die Verträge geregelt, dass ein Nationalstaat nur eine Sprache als offizielle Amtssprache mitbringen darf. Dennoch – Sie haben es ja selbst erwähnt – Katalanisch beispielsweise als Vertragssprache findet natürlich auch Eingang jetzt in Rechtstexte. Und jetzt müssen wir uns eben die Frage stellen, auf der einen Seite eine sehr positive Entwicklung, dass wir nämlich jetzt wieder uns unserer Regionalsprachen und Kulturen besinnen, die lange Zeit unterdrückt waren, auf der anderen Seite natürlich eine Zunahme der Heterogenität, die – und wenn man jetzt wieder eben die These des Buches aufgreift, diese Zerreißprobe – dann eben zu dieser selektiven Mehrsprachigkeit führt.

König: Wenn Sie das Katalanische herausstellen oder nehmen wir auch noch das Baskische, in diesen Regional- oder Minderheitensprachen stecken oft separatistische Tendenzen. Kann die EU das besser dämpfen als die jeweiligen Nationalstaaten das können oder verschärft die EU eher noch die Konflikte?

Weber: Die EU kann das sicherlich auf der einen Seite besser dämpfen, da sie ja die Historie der Nationalstaaten nicht trägt. Lassen Sie mich diese Historie nur an vier Punkten ganz kurz aufgreifen. Nehmen Sie das 15. Jahrhundert. Im 15. Jahrhundert entsteht die erste Grammatik in einer Volkssprache, nämlich dem Spanischen, das war eine Grammatik zum Latein, aber eben die Volkssprache war mit dabei. In diesem Jahrhundert wird die Alhambra befreit von den Christen. In diesem Jahrhundert bekommt Cristobal Colon den Auftrag, Amerika zu entdecken. Und letztlich wird in diesem Jahrhundert der Buchdruck erfunden. Das heißt, in diesem Schlüsseljahrhundert haben wir die Entwicklung oder den Anfang der Entwicklungen der Nationalsprachen, die dann eben zur nationalstaatlichen Gründung fortgesetzt wurde. Diese gesamte Geschichte ist eben eine Geschichte der – wenn Sie so wollen – auch Unterdrückung der Regional- oder Minderheitensprachen, die eben nicht diese Standardisierung erreichen wie heute unser Deutsch, Spanisch, Französisch. Und diese Geschichte schleppen natürlich die Nationalstaaten mit und führt immer wieder zu Unterdrückungen der Regional- oder Minderheitensprachen. Da kann die EU sicherlich mehr, aber nur dann, wenn die EU eben nicht durch die Nationalstaaten nur repräsentiert wird. Wir brauchen also wirklich europäische Organe.

König: Aber die wiederum bedürfen doch eines gewissen Maßes an Einheitlichkeit. Also was soll man tun? Sollen sie denn letztlich sich auf drei, vier große Sprachen konzentrieren, um große Veröffentlichungen zum Beispiel zu proklamieren?

Weber: Also es gibt ja in der Vergangenheit verschiedene Ansätze, ich erwähne nur, Esperanto war so ein Versuch, der nicht funktioniert hat. Es muss sicherlich in der Europäischen Union über Verkehrssprachen laufen, aber eben nicht nur eine, sondern eben auch über verschiedene in unterschiedlichen Regionen. Sie haben ja, wenn Sie an Osteuropa denken, zum Beispiel Deutsch mit einer bestimmten Brückenfunktion. Sie haben Frankreich, Französisch, Spanisch in den entsprechenden Regionen, Wirtschaftsräumen im Mittelmeerraum, bestimmte Brückenfunktionen. Also dass man eben nicht nur sich auf eine Sprache konzentriert, sondern bewusst diese Abstufungen macht. Und dann ist es sicherlich eine Frage der Verhandlung, inwieweit andere Sprachen mit in diesen Status oder mit in Verträge, in weitere Wirtschaftskontexte hineinkommen.

König: Das heißt, Sie plädieren dafür, nicht nur die Einsprachigkeit innerhalb der EU-Organe, das Englische, sondern mindestens eine Vier- oder Fünfsprachigkeit?

Weber: Ich plädiere in der Form, dass ich Ihnen die Frage zurück stellen könnte: Welches Englisch wollen Sie denn? Das Englisch Englands oder wollen Sie das Englisch, das in der EU gesprochen wird, das Eigentümlichkeiten wie Wörter, ein "delivery" (Anm. d. Online-Red.: Wort schwer verständlich im Hörprotokoll) beispielsweise herausgibt, was es im Englischen gar nicht gibt. Also so viel zu Anekdoten auch aus dem Brüsseler Alltag. Das ist eben die Frage zurück: Können wir uns denn überhaupt auf den Standpunkt stellen, ein Englisch hier rauszugreifen, was dann das Englisch für die Europäische Union ist? Sicherlich nicht. Das ist ja auch das Problem des globalen Englisch. Wir haben Englisch in so vielen Facetten, dass wir gar nicht sagen können, das ist jetzt das Englisch, das unsere Verkehrssprache ist.

König: Könnte man eine EU-weite Bildungspolitik zum Beispiel sich vorstellen, die auf eine auch europaweite sprachliche Verständigung hin sich ausrichtet?

Weber: Das ist sicherlich eine große Aufgabe für die Europäische Union, denn was letztlich der Europäischen Union fehlt, was die Nationalstaaten hatten, dass sie Schulen, Bildungssysteme dazu benutzten, eine Einheitlichkeit herzustellen, eben auch in einer Sprache, mit all den negativen Entwicklungen natürlich auch, fehlt der EU, das ist eben in den Verträgen so geregelt, der direkte Zugriff auf die Bildungssysteme. Das heißt, wir brauchen also mehr als einen europäischen Pass, wir brauchen sicherlich so etwas wie eine – wir nennen das eine Multiperspektivität, also eine Herangehensweise aus verschiedenen Perspektiven, beispielsweise zur Geschichte. Denn Sie können sicher sein, dass zum Beispiel die Französische Revolution in einem französischen Geschichtsbuch anders dargestellt wird oder differenzierter dargestellt wird als in einem deutschen, englischen, spanischen, griechischen und was Sie noch dazu nehmen wollen. Das wäre die Herausforderung der Union, hier dafür zu sorgen, dass man eben nicht nur die nationalsprachliche Sicht, also mit der deutschen Brille auf die Französische Revolution, mit der litauischen Brille auf die Französische Revolution, sondern mit der jeweiligen nationalsprachlichen Brille. Da könnte man sehr viel tun.

König: Für wie beweglich halten Sie die EU, dass sie sich dieser Herausforderung stellt?

Weber: Die EU ist hier sicherlich sehr beweglich. Wir haben ja mit dem Kommissar Orban eben jetzt auch eine, wenn Sie so wollen, eine Speerspitze für Mehrsprachigkeit mit dem Kommissar in der Europäischen Union. Die Frage ist, inwieweit eben die Nationalstaaten – das noch mal zum Stichwort Zerreißprobe – die Nationalstaaten in der Lage sind oder auch willig sind, hier auch Eingriffe in die Schulsysteme zu gewährleisten. Nehmen Sie allein Deutschland mit der Kulturhoheit der Länder, allein dadurch potenziert sich natürlich das Problem.

König: Die Europäische Union vor der sprachlichen Zerreißprobe. Das Buch von Peter J. Weber "Kampf der Sprachen" ist erschienen im Reinhold Krämer Verlag. Herr Weber, vielen Dank!

Weber: Danke schön!