Mehr Rechte für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte!

Von Katja Wilke |
Steckt ein Dieb im Kaufhaus eine Tafel Schokolade ein, muss er sich vor dem Strafrichter am Amtsgericht verantworten. Wird ein Mord aufgedeckt, befasst sich die Strafkammer des Landgerichts mit dem Fall. Die Zuständigkeiten sind klar und nachvollziehbar: Kleinkriminalität hier, dicke Brocken da.
Für Verstöße gegen Menschenrechte ist dagegen nur ein Gericht zuständig: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Egal, ob ein Staat seine Bürger foltert, oder ob ein Rechtssuchender sich über zu lange Gerichtsverfahren in seinem Heimatland beklagt – beide Fälle landen in Straßburg.

Bewusst wurde dies vielen Deutschen erst in den vergangenen zwei Jahren. Denn seither hatte der Menschenrechtsgerichtshof mehrere spektakuläre Urteile gegen Deutschland gefällt. Und plötzlich stand der Musterschüler als Menschenrechtsverletzer da. Ausgerechnet Deutschland, dem Land, in dem Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht für hohe Standards sorgen.

Zwei Urteile sorgen für besonders viel Aufregung: Erst gab der Menschenrechtsgerichtshof einem ledigen Vater recht, der um das gemeinsame Sorgerecht für sein Kind kämpfte, wenig später erklärte es die nachträgliche Sicherungsverwahrung für menschenrechtswidrig. Diese Urteile waren gut und richtig: Das deutsche Familienrecht kann es in mancherlei Hinsicht vertragen, entstaubt zu werden. Und bei der 2004 unter rot-grün eingeführten nachträglichen Sicherungsverwahrung hatten zahlreiche Politiker schon damals Zweifel, ob sich die Regelung noch auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit bewegt.

Bevor diese Klatschen aus Straßburg kamen, war aus Sicht vieler Deutscher klar, für wen die Europäische Menschenrechtskonvention ausschließlich gemacht war: Für solche unter den 47 Vertragsstaaten Europas, die keine oder nur eine mangelhafte Verfassungsgerichtsbarkeit aufweisen – und damit regelmäßig für eine massive Überlastung der Straßburger Richter sorgen. Dazu zählen unter anderem Länder wie die Türkei, Russland, Rumänien und auch die Ukraine.
Natürlich erscheint es unpassend, dass Deutschland wegen vermeintlicher Luxusprobleme vor ein und demselben Gericht landet wie Staaten, die es mit der Unversehrtheit ihrer Bürger nicht so genau nehmen. Und doch muss man das Ungleichgewicht ertragen, denn schließlich darf es keine Zwei-Klassen-Gerichtsbarkeit bei Menschenrechtsverstößen geben. Der Gerichtshof verlöre schnell jegliche Akzeptanz, wenn er es nur noch auf vermeintliche Schurkenstaaten abgesehen hätte.

Ohnehin ist es mit der Anerkennung in vielen Staaten nicht so weit her: Während sich Deutschland bemüht, den Urteilen Folge zu leisten, wirkt die Rolle des Büßers bei zahlreichen anderen Staaten nur wie gespielt. Russland etwa zahlt brav Entschädigungen, wenn mal wieder ein Menschenrechtsverstoß festgestellt wurde. Täter und deren Hintermänner werden jedoch allzu oft nicht belangt.

Menschenrechtler träumen deswegen davon, dem Gericht völkerrechtliche Sanktionsmöglichkeiten und Durchgriffsbefugnisse zu geben. Dann könnten die Richter nationalstaatliche Urteile aufheben – statt wie bislang nur Entschädigungszahlungen gegen Staaten zu verhängen.

Dass das noch lange Zeit ein Traum bleiben wird, dafür reicht ein Rückblick in die jüngere Geschichte. Es dauerte Jahre, bis Russland sich schließlich Anfang 2010 dazu durchringen konnte, grundlegenden Reformen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes zuzustimmen, die die Verfahren verschlanken sollten. Kein Wunder: Für Staaten, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen, bedeuten schnellere Verfahren schließlich eine Bedrohung. Es braucht keine Fantasie um sich auszumalen, wie viel Enthusiasmus solche Staaten an den Tag legen, wenn ein supranationales Gericht auch noch direkt in ihre nationale Souveränität eingreifen wollte.

Dennoch muss die Entwicklung in diese Richtung gehen. Nur so wird es beim Schutz von Menschenrechten in Europa wirklich voran gehen.

Katja Wilke, Wirtschaftsjournalistin und Rechtsanwältin in Berlin. Sie schreibt für Tages- und Wochenzeitungen sowie Magazine über Rechtspolitik und Wirtschaftsrecht. Sie arbeitete zuvor als Redakteurin für die "Financial Times Deutschland". Das Volontariat absolvierte sie an der Georg-von-Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalisten in Düsseldorf.
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