Mehr Basisdemokratie? Nein danke!

Von Jacques Schuster · 15.11.2011
Plebiszite wirken wie Misstrauensvoten den Abgeordneten gegenüber. Führt man sie ein, ergibt sich eine Absurdität: Ein Volk in einem repräsentativen System traut seinem Parlament die Fähigkeit zur Repräsentation nicht mehr zu. Widersprüchlicher geht es nimmer, meint der Historiker Jacques Schuster.
Der Herbst wird dem Volke gehören – so wissen einige Politiker wie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann und sind jetzt schon geneigt, sich als Vorkämpfer der wahren Volksherrschaft auf die Schulter zu klopfen. Am 27. November sind die Bürger seines Bundeslandes aufgerufen, über Stuttgart 21 abzustimmen. CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt hat vorgeschlagen, die Bürger bei wichtigen Fragen zu Europas Zukunft mit Volksabstimmungen einzubeziehen. Und auch SPD-Chef Sigmar Gabriel preist die Vorteile der direkten Demokratie. Er wünscht, jede europapolitische Weichenstellung künftig durch Plebiszite entscheiden zu lassen und Volksbefragungen selbst dann anzuberaumen, wenn nur ein Fünftel der Wahlberechtigten sich dafür ausspricht.

Ist das wirklich demokratisch? Und was wird aus dem Bundestag?

In Deutschland herrscht noch immer eine aus dem Wilhelminismus stammende Verachtung gegenüber dem Parlament als der "Schwatzbude" des Staates, in der der Abgeordnete als bloßer Phrasendrechsler kaum etwas zählt. Hinzu kommt ein vulgärdemokratischer Jakobinismus, der in letzter Konsequenz dem Grundgesetz abspricht, eine "echte" Demokratie geschaffen zu haben, weil die Parlamentarier nicht in der Lage seien, den Volkswillen widerzuspiegeln. Im Grundgesetz aber sind die Abgeordneten nicht Volksvertreter, sondern Repräsentanten des Volkes, "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", heißt es in Artikel 38,1. Das Parlament soll souverän sein, nach oben und nach unten.

Die Väter der westlichen Verfassungen haben sich für die repräsentative Form der Demokratie entschieden, weil sie den "wahren" Volkswillen für nicht zu ermitteln hielten und das, was man gemeinhin darunter versteht, als höchst launisch und unberechenbar empfanden. "Nur als repräsentatives Volk weiß ein Volk, was es will", schrieb der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel schon 1964. Mahnend fügte er hinzu: Ein Volk, das seinem Parlament nicht die Gabe zur politischen Repräsentation zutraut, leide an einem demokratischen Minderwertigkeitskomplex.

Man muss nicht so weit gehen wie Fraenkel. Es genügt, sich zu überlegen, welche Folgen Plebiszite heute für die Stabilität der Bundesrepublik hätten: Volksentscheide brächten die drei Gewalten aus dem Gleichgewicht. Die Stimme des Volkes (oder was dafür gehalten wird) ließe als zentnerschwere vierte Gewalt die Waagschale der Legislativen in die Höhe schnellen. Die Position des Bundestages wäre geschwächt, seine Unabhängigkeit mehr und mehr infrage gestellt. Plebiszite wirken wie Misstrauensvoten den Abgeordneten gegenüber. Führt man sie ein, brächten sie folgende Absurdität: Ein Volk in einem repräsentativen System traut seinem Parlament die Fähigkeit zur Repräsentation nicht mehr zu. Widersprüchlicher ginge es nimmer.

Fraenkel warnte übrigens, dass in jedem plebiszitären System die Gefahr des Cäsarismus stecke. Zwar muss man ihm darin nicht folgen, interessant aber ist sein Hinweis, dass Plebiszite vor allem gut vernetzten Minderheiten zugutekommen, die gegenüber der stets schlummernden Mehrheit im Vorteil sind. Denn die Mehrheit ist träge und geht im Zweifel nicht an die Urnen.

Man gewinnt den Eindruck, dass die vielen Befürworter der direkten Demokratie darüber nicht wirklich nachgedacht haben.

Liegt darin nicht vielleicht der Grund für die allgemeine Politikverdrossenheit? Es sind die gedankenlosen Reden der Mehrheit der politischen Elite. Es ist ihr fehlendes Bewusstsein, dass von ihren eigenen Entscheidungen die Stabilität des Landes abhängt. Es ist ihr Betragen in der Art einer riesigen Piratenpartei, in der man das eine oder andere ausprobieren kann, wie es gerade gefällt, ohne auf die deutsche Geschichte und die Traditionen der westlichen Demokratie zu achten.

Vielen Politikern fehlt die nötige Ernsthaftigkeit, mit der sie sorgfältig abwägen und immer im Bewusstsein behalten müssten, dass die Stabilität des Landes nicht gottgegeben ist. Diese mangelnde Ernsthaftigkeit ist das Defizit unserer Demokratie. Nicht die fehlende Volksbefragung.

Jacques Schuster, 1965 in Berlin geboren, studierte Geschichte und Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin. Von 1994 bis 1997 war er regelmäßiger Autor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und des Tagesspiegels. Von 1998 bis 2006 leitete Schuster das Ressort Außenpolitik bei der Welt, jetzt ist er Verantwortlicher Redakteur der Literarischen Welt. 1996 erschien sein Buch "Heinrich Albertz – Ein Mann, der mehrere Leben lebt".