Mehr als Klezmer

Von Claudia Ehlert · 11.01.2013
Im Ruhrgebiet ist in den letzten Jahren nahezu unbemerkt ein neues Zentrum jüdischen Lebens in Deutschland entstanden - und damit auch ein neues Interesse an der jüdischen Kultur und Kunst. Eine Veranstaltungsreihe bietet nun Gelegenheit, "Musik und Kultur der Synagoge" näher kennenzulernen.
Dreißig Männer. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, die Kippa auf dem Kopf. Der Synagogenchor Zürich ist zu Gast in Essen in der alten Synagoge. Erste, sehr frühe Besucher, hören bei der Probe zu, suchen sich einen Sitzplatz. Schnell füllen sich die Reihen. Über hundert Besucher kommen zu dem Konzert der Biennale "Musik und Kultur der Synagoge".

"Die Musik berührt mich, mir gefällt die Musik."

Für Beate Scholten ist die Alte Synagoge ein besonderer Ort.

"Es kommen auch sehr viele in dieses Haus hier, weil es einfach ein schönes Haus ist und weil die jüdische Kultur interessiert, weil man so wenig davon weiß."

Der Bau der früheren jüdische Gemeinde Essen ist heute Kulturinstitut der Stadt. Im ersten Stock ist eine Ausstellung zum jüdischen Leben im Ruhrgebiet. Regelmäßig finden hier Vorträge und Konzerte statt.

Inzwischen gibt es wieder große jüdische Gemeinden im Ruhrgebiet. Seit 1989 wächst die Zahl der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion - die neuen Mitglieder der Gemeinden in Gelsenkirchen, Unna oder Bochum. Die Gemeinden haben an Selbstbewusstsein gewonnen. Mit ihrem Kulturprogramm suchen sie Gelegenheit zum Austausch, sagt Konzertbesucherin Regine Ortmann.

"Ich glaube nicht, dass das so selbstverständlich ist, aber in diesem Hause schon seit längerer Zeit."

Musik ist oft ein erster Schritt zur jüdischen Kultur, sagt Patrizia Strunk.

"Was mich immer fasziniert, sind die Kantoren. Wenn es gute Kantoren sind. Wir haben mal eine Studienreise nach Budapest gemacht und in der Synagoge dort einen Kantor gehört, den werde ich nie vergessen."

Jüdische Kultur im Ruhrgebiet – für Patrizia Strunk ist die "Alte Synagoge" inzwischen eine feste Adresse.

"Ich bedaure, dass ich erst so spät hierhin gekommen bin."

Manfred Keller: "Wir wollen nicht nur Wissen vermitteln, sondern wir möchten jüdische Kultur erlebbar machen."

Manfred Keller hat die Biennale "Musik und Kultur der Synagogen" ins Leben gerufen, 2008 mit einem ersten Zyklus, Ende Januar 2013 startet eine dritte Folge.

"Die Biennale hat sich eine Musik auf die Fahnen geschrieben, die lange nicht aufgeführt worden ist, sowohl in den jüdischen Gemeinden, die nun eine andere Tradition aufgenommen haben, als auch Musiker, die die Komponisten aus dem Umfeld, Bloch, Chaim usw. aufgreifen, Namen, die sie hierzulande in Konzertprogrammen kaum finden. Und es zeigt sich, dass hier eine lebendige und die moderne Tonsprache aufnehmende Musik gepflegt wird, die ein Stück unserer Verlustgeschichte ist.

Es ist, dass etwas begegnet, was mich innerlich anspricht - diese Erfahrung machen viele, darüber tauschen sie sich auch aus."

Es sind Wiederentdeckungen einer gemeinsamen Geschichte. Die jungen Musikerinnen des Ensembles "mendels töchter" haben sich der Musik Erich Mendels verschrieben. Der in Gronau geborene Komponist und Kantor war der letzte Chasan der Jüdischen Gemeinde Bochum vor der Shoa. Er emigrierte in die USA und nannte sich fortan Eric Mandell.

"Die deutschen Medien betreiben teilweise eine Exotisierung des Judentums, die der Wirklichkeit, wie sie bis '33 in Deutschland existierte, nicht entspricht."

Uri Robert Kaufmann leitet die "Alte Synagoge" Essen. Seiner Ansicht nach müssen Juden und Nicht-Juden einander neu kennen lernen.

"Die deutschen Juden kannten Klezmer nicht. Und auch die osteuropäischen Juden - für die war es eine Erinnerung an die Großeltern, vielleicht. Es geht darum, ein bisschen Wirklichkeit zu vermitteln. Es gibt Sachen, wo man dem breiten Publikum gewisse Unterschiede und eine Vielfalt jüdischer Kultur in Erinnerung rufen muss, die in Deutschland existiert hat und international in Israel und den USA in gewisser Weise auch weiter existiert. Und das kommt in den Medien leider viel zu wenig rüber bis heute."

Die jüdischen Gemeinden haben sich in den letzten Jahren verändert – für Uri Kaufmann ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen.

"Die Leute müssen sich erst einmal selber jüdisch positionieren, bevor sie dann auf Basis der eigenen Identität in Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft kommen können. Das Bedürfnis für die nächsten Jahre ist die Selbstfindung."

Die Verjüngung der Gemeinden im Ruhrgebiet – das alleine ist noch keine Perspektive, sagt Kaufmann.

"Die jüngeren Jahrgänge, da ist Potenzial da, das hängt natürlich davon ab, was die jüdische Gemeinschaft anbietet. Ob sie sie hinführen können zu verschiedenen Aspekten der jüdischen Kultur und Religion und Geschichte oder ob das nicht so gut funktioniert oder umgekehrt, ob die Jungen Interesse haben, mitzumachen, Kulturarbeit zu machen. Das ist für mich sehr ungewiss."

Die Biennale ist ein Angebot besonders auch an die jüdischen Gemeinden, sagt Manfred Keller.

"Ein Punkt, der mir aufgefallen ist, ist, dass bedeutende künstlerische Potenziale da sind. Schriftstellerei, es gibt einen hervorragenden Pianisten. Nur alle diese Leute müssen auch erst einmal hier Fuß fassen. Ein Anliegen der Biennale ist es, mit jüdischen Gemeindemitgliedern, vielleicht auch mit Kantoren als dauerhafte Bezugspersonen solche Angebote zu machen. Wir hoffen, dass wir an der Stelle auch noch intensiver in einen Austausch, in ein Gespräch kommen werden."

Die Biennale ist mehr als ein Rückblick auf jüdische Traditionen in Deutschland, sie ist vor allem ein Aufbruch.