Mehr als ein Organ

Rezensiert von Carsten Hueck |
Für den Romantiker steht es im Zentrum: Das Herz als Sitz der Gefühle. In der Moderne wird es dagegen entzaubert, verkommt zum medizinischen Begriff. Ole Martin Hoystad beschreibt die Entwicklung des abendländischen Verständnisses vom Herzen, seine "Kulturgeschichte des Herzens" geht aber auch auf dessen Bedeutung im Islam ein, den er als "letzte Herzenskultur" sieht.
Ole Martin Hoystad beginnt seine Beschreibung der Metamorphosen des Herzens bei den frühen Hochkulturen. Im Gilgamesch-Epos entdeckt er das erste Herzopfer der Kulturgeschichte. Bei den Ägyptern die Bedeutung eines "harten Herzens". Es hatte - Sitz des Verstandes, des Denkens und Urteilens - glatt und kalt zu sein. Eng verbunden mit religiösen Riten, ermöglichte es eine Widergeburt im Jenseits. Die Analogie von Herz und Sonne findet Hoystad nicht nur im religiösen Kontext der ägyptischen Kultur, sondern Jahrhunderte später auch bei den Azteken.

Während man in Ägypten den Toten das Herz entfernte, um es einzubalsamieren, wurde es in der südamerikanischen Kultur den Lebenden aus der Brust geschnitten. Zur Zeit der spanischen Eroberer brachten die Azteken auf diese Weise bis zu 15.000 Menschen pro Jahr ums Leben. Was heutige Leser auf den ersten Blick befremdet, erschließt sich durch Ausführungen des Autors als durchaus schlüssig: Die aztekische Kultur basierte auf dem Gedanken, dass die Welt grundsätzlich instabil sei und ihr Untergang jederzeit bevorstehe. Die Sonne des aztekischen Kosmos stand in Analogie zum Herzen. Um jeden Morgen wieder aufgehen zu können, musste man Opfer bringen. Die Opferung von Herzen geschah zur Rettung von Herzen.

Hoystad zeichnet - in einzelnen, auch in sich verständlichen Kapiteln - vor allem die Entwicklung des abendländischen Verständnisses vom Herzen nach. Von Plato über Paulus, Augustinus, Shakespeare, Herder bis zu Nietzsche und Foucault. Das Herz spiegelt bei ihm die Geschichte des Menschen im Bemühen um Selbsterkenntnis.

Den asiatischen Raum behandelt der Autor nicht, widmet sich aber eingehend der Bedeutung des Herzens im Islam, den er als "letzte Herzenskultur" charakterisiert. Im Islam ist das Herz bis heute ein Erkenntnisorgan, mit dem der Mensch auch göttliche Einsichten erfassen kann.

Radikale Subjektivität und Verherrlichung der Leidenschaft findet Hoystad auch im romantischen Menschen. Das Herz gilt diesem als Sitz der Gefühle und Ursprungsort der Liebe. Romantiker begehren demnach eher Herz als Geschlecht ihres oder ihrer Geliebten.

Immer wieder bezieht sich Hoystad in seiner Argumentation auch auf literarische Texte. Seine Lesart verbindet Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Philosophie und Naturwissenschaft. Prononciert verweist Hoystad auf die ständige Wechselwirkung von Sprache, Kunst und Empfindungen. Die Lieder mittelalterlicher Troubadoure, auch die Ritterromane, ermöglichten tatsächlich neue Umgangsformen zwischen Männern und Frauen - die sich dann wiederum in der Literatur ihrer Zeit niederschlugen.

Der Autor beendet seine Erkundung des Herzens mit der Beschreibung von dessen Entzauberung in der Moderne. Seiner symbolischen Bedeutung beraubt, zum psychologischen, medizinischen Begriff verkommen oder schlicht kommerzialisiert, sei es trivial und verkitscht. Wer Hoystads Buch bis zu diesem Punkt aber gelesen hat, dem ist diese Sichtweise garantiert nicht mehr möglich. Denn die Lektüre ermöglicht, sein Herz zu öffnen für jene feine Vermittlung von Irdischem und Himmlischen, Natur und Verstand, für die das Herz eben auch steht.

Ole Martin Hoystad: Kulturgeschichte des Herzens. Von der Antike bis zur Gegenwart
Aus dem Norwegischen von Frank Zuber
Böhlau Verlag, Köln-Weimar,
24,90 Euro