Megan Abbott: "Aus der Balance"

Das rohe Fleisch des Begehrens

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Das Cover des Krimis von Megan Abbott, "Aus der Balance". Die Titelillustration in Grautönen zeigt eine schlanke Frau in Ballettpose, die sich an einer senkrecht stehenden Stange festhält. Das Buch ist auf der Krimibestenliste von Deutschlandfunk Kultur.
© Pulp Master

Megan Abbott

Übersetzt von Karen Gerwig und Angelika Müller

Aus der BalancePulp Master, Berlin 2023

330 Seiten

16,00 Euro

Von Kolja Mensing · 03.02.2023
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Platz eins der Krimibestenliste im Februar: Die US-Amerikanerin Megan Abbott hat mit „Aus der Balance“ einen perfekt choreographierten Ballettthriller geschrieben. Ein düsterer Roman über Verbrechen, die es nur in Familien gibt.
Vor zehn Jahren haben Dara und Marie die „Ballettschule Durant“ von ihrer Mutter übernommen. Gemeinsam mit Daras Mann Charlie verkaufen die beiden Schwestern in einer trostlosen amerikanischen Kleinstadt ihren Schülerinnen und Schülern den in rosa Tüll gekleideten Traum vom „fiebrigen, flüchtigen Ruhm“ im Scheinwerferlicht.

Eine Märchenkulisse zerfällt in Stücke

Doch dann kommt es kurz vor den Proben zur traditionellen Weihnachtsvorstellung mit dem „Nussknacker“ zu einem Brand in der Schule – und die Märchenkulisse des kleinen Familienunternehmens zerfällt buchstäblich in Stücke. Der rücksichtslose Bauunternehmer Derek, der mit den Renovierungsarbeiten beauftragt worden ist, zertrümmert lustvoll die maroden Wände des Studios und treibt einen tödlichen Keil zwischen die Geschwister.
Megan Abbott setzt ihre Geschichte in „Aus der Balance“ von der ersten Seite an raffiniert in Szene. Die ungezügelte Gewalt des Bauunternehmers trifft auf eine Welt aus Satin, aufgebrochenen Spitzenschuhen und jenem „nervösen Verlangen“, das die jungen Tänzer und Tänzerinnen weit über ihre Schmerzgrenze hinausgehen lässt.
Als Derek Marie zu seiner Geliebten macht, wird Dara von beunruhigenden Flashbacks heimgesucht. Die brutalen Streitereien ihrer Eltern. Die übergriffige Mutter, die ihren Lieblingsschüler Charlie als Teenager in den Haushalt holt und ihn dann ihren Töchtern als Sexspielzeug überlässt. Schließlich der rätselhafte Autounfall, bei dem ihre Eltern ums Leben kommen und der den Weg für die groteske „Ménage à Durant“ freimacht: Charlie, den das Tanzen früh zu einem körperlichen Wrack gemacht hat - er ist steif wie der Nussknacker in Tschaikowskys Ballett! -, wird Daras Ehemann. Und zusammen mit Marie schaffen sie ein Monstrum, das sie selbst „Familie“ nennen.

Lüge um Lüge wird enttarnt

Abbott ist mit „Aus der Balance“ ein perfekt choreographierter Ballettthriller gelungen – und ein düsterer Roman über Verbrechen, die es nur in einer Familie geben kann. Dafür hat die amerikanische Schriftstellerin einen gnadenlosen Blick: So wie die ehrgeizigen Tänzerinnen in der Ballettschule sich mit einer Rasierklinge die Hornhaut von den zertanzten Füßen schneiden, legt sie Schicht um Schicht der Lügen frei, in die Dara, Marie und Charlie sich und ihre Vergangenheit gehüllt haben. Am Ende bleibt nur das rohe Fleisch des Begehrens.
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