Medizinmann und Gourmetkoch

Von Markus Frenzel |
Im Herzen von Downtown Singapur unterhält ein chinesischer Heilmediziner seine Arztpraxis. Verschrieben werden den Patienten hier keine Pillen und Chemiecocktails. Gegen die kleineren und größeren Wehwechen bekommen die Kranken wohlschmeckende Speisen aufgetischt. "Herbal Cooking" nennt sich die Therapie. In alter chinesischer Tradition soll Nahrung als Medizin dienen.
Wenn Ong Tee Chew mal wieder zum Arzt geht, dann freut sich sein Bauch. Der Geschäftsmann gehört zu den treuesten Patienten von Dr. Lee - einem chinesischen Wunderdoktor in Singapur. Seine Praxis hat der Arzt im Imperial Herbal Restaurant eingerichtet - in einer kleinen Kammer, direkt hinter den vielen Tischen. Aber eigentlich ist das ganze Lokal sein Behandlungszimmer.

Nach einer gründlichen Untersuchung verschreibt Lee den Patienten seine Medizin - ein auf die jeweilige Person abgestimmtes, feines Gourmet-Menü und lässt sie an einem der Tische Platz nehmen.

Ong Tee Chew hat sich beim Golfspielen den Arm verletzt. Dr. Lee hat ihn bereits akupunktiert - jetzt muss er noch seine Arznei schlucken.

Ong Tee Chew: "Ich esse hier eine Gemüse- und Fischsuppe. Das ist das, was mir der Doktor empfohlen hat. Er sagte - ein gesundes Gericht. […] Er sagte viel Gemüse und Fisch, kein Fleisch."

Schon seit 18 Jahren wirkt Dr. Lee im Imperial Herbal Restaurant. Anfangs kam er noch zu den Gästen an den Tisch, fühlte den Puls, schaute in die Augen und verordnete dann seine Kost. Tischbesuche kann Lee schon lange nicht mehr durchführen. Vom Geheimtipp hat sich das Restaurant zum Publikumsmagneten entwickelt. Vor Lees Kammer stehen die Leute Schlange. Um die Gedecke drängen sich abends bis zu 140 Gäste.

Dr. Lee: "Ich arbeite hier als chinesischer Kräuterdoktor. Ich berate den Koch in allen Fragen rund um Arzneimittel. Welche Kräuter sind gesund? Wie lässt sich die menschliche Abwehr stärken? Wie verschaffen wir unseren Gästen mehr Energie?"

Auf die Arznei-Teller von Dr. Lee kommen aber längst nicht nur Kräuter. In einer Ecke des Speisesaals ist eine komplette Apotheke aufgebaut. Restaurantchefin Doris Ho steht hinter dem Tresen. Sie hat - wie das gesamte Personal - vom Arzt einen Schnellkurs in chinesischer Heilkunde bekommen und berät nun selbst die Gäste.

Doris Ho: "Hier gibt es Schlange, Schildkrötenpanzer, Lingziu-Pilze, Geckos. Hier, die Blindschleiche, ist gut gegen Rheuma. Und Schlange schmeckt auch besser als Huhn."

Hundert kleine Holzschubladen türmen sich hinter Ho auf.

Doris Ho: "Das sind Bienenpanzer. Aber die essen wir nicht. Wir trocknen sie und machen daraus Tee."

Ho: "Hier haben wir einen Hirschpenis und einen Ochsenpenis. Wir machen daraus Peniswein. Auch die sind getrocknet. Wir zerhacken sie und schmeißen die Stücke dann in den Wein. Für sechs Monate."

Der Hirschpeniswein gehört zu den Highlights des Restaurants. Allerdings ist das Gläschen mit 12 Euro auch nicht ganz billig. Mit seiner öligen, würzigen Note ähnelt der Trank stark einem deutschen Kräuterlikör. Jedoch mit ganz anderen Nebenwirkungen. Doris Ho nennt das Hirschpenis-Getränk deshalb nur Superman-Wein.

Ho: "Manche Männer können den sicher gut brauchen. Vielleicht wissen sie, na ja, dass sie ein paar Probleme haben. Ihnen fehlt Energie. Oder sie sind immer müde und ausgepowert. Dann sollten sie ein, zwei Gläser trinken."

In der Küche arbeiten vier Köche im Akkord. Sie stehen vor massiven Gasherden mit einer einzigen runden Öffnung, aus der Flammen herausschießen. Shi Liah Yong rüttelt ständig seinen Wok über dem Feuer. Mit einem kleinen Sieb fischt er frische Zutaten aus Bottichen und lässt sie in die Pfanne gleiten.

Koch: "Dr. Lee hat uns genau gezeigt, was und wie wir die Gerichte zubereiten müssen. Es ist nicht schwierig. Eigentlich ist es traditionelle chinesische Küche, aber eben mit den Arzneimitteln drin."

Manche Gerichte stehen nicht auf der Karte. Nach ihnen muss gefragt werden. Aus Angst vor den strengen Hygieneinspektoren in Singapur und vor den Gesetzen, die bestimmte Arten unter Schutz stellen, sind die Betreiber vorsichtig geworden. Als einem Gast einmal Tigerpenis aufgetischt wurde, da bekam das Restaurant einen Rüffel. Zu den lukullischen Schätzen, die Dr. Lee nun heimlich auftischen lässt, gehört auch Skorpion.

Dr. Lee: "Skorpion ist gut gegen Rheuma. Außerdem hilft es gegen Migräne und gegen Kopfschmerzen. "

Das Exotischste, was Jonathan Ang bisher probiert hat, waren frittierte Ameisen. An einem großen runden Tisch sitzt er mit einer Gruppe junger Männer. Ang gehört zu den Stammkunden im Imperial Herbal Restaurant.

Jonathan Ang: "Immer mehr junge Leute gehen sehr bewusst mit ihrer Gesundheit um. Auch beim Essen wird ihnen gesunde Ernährung immer wichtiger. Das hier gefällt den jungen Leuten. […] Es liegt im Trend."

Angs Freund Lee Schee Koeng wischt sich den Mund ab. Er legt die Stäbchen und den Löffel aus Porzellan zur Seite.

Lee Schee Koeng: "Ich habe zuerst eine Suppe gegessen. Mit getrockneten Muscheln. Die geben dem Gericht einen süßen Geschmack. Dazu noch ein bisschen Wintermelone und Karotte - für die körperliche Balance - dafür stehen schon die Farben. Rot und weiß. Und ein bisschen Fisch.
"Fühlst du schon was?"
Nein. Das geht nicht so schnell. Aber ich spüre auf jeden Fall, dass es sehr lecker war."