Medizinjournalismus: Mit Aufklärung gegen Halbwahrheiten

Holger Wormer im Gespräch mit Ulrike Timm · 29.08.2012
Es gebe gute, aber auch schlechte Studien zu medizinischen Themen und Journalisten müssten lernen, diese zu unterscheiden, um eine seriöse Berichterstattung über medizinische Themen zu garantieren, sagt Holger Wormer. Er hat daher das Portal www.medien-doktor.de gegründet.
Ulrike Timm: Getrocknete Erdbeeren können das Wachstum bei Speiseröhrenkrebs hemmen. Das ist eine Zeitungsmeldung von vielen, die sich auf eine medizinische Studie stützt. Merkwürdig, denkt man spontan, Erdbeeren sind doch frisch so lecker wie gesund, aber gut, wenn man raucht, viel Sodbrennen hat und also dadurch womöglich gefährdeter ist für den tückischen Speiseröhrenkrebs, vielleicht sollte man die Erdbeeren ja künftig besser tatsächlich vorher trocknen. Wie begründet das Misstrauen gegen viele medizinische Berichte ist, wie eingeschränkt das Blickfeld der entsprechenden Autoren, und wie viel Hoffnung da mitunter auf ganz schmaler Informationsbasis geschürt wird, davon kann uns Professor Holger Wormer viel erzählen.

Er ist Mediendoktor an der TU Dortmund, das heißt, Holger Wormer und sein Team untersuchen systematisch, wie seriös deutsche Medien über medizinische Themen berichten. Sie brauchen also Fachkompetenz nach beiden Seiten hin, in die Medizin und zum Journalismus. Entstanden ist unter anderem ein Internetportal, wo man Beispiele findet für Berichte, denen man trauen kann, und eben auch andere, die aus den unterschiedlichsten Gründen Halbwahrheiten unters Volk bringen oder auch schlicht Unsinn. Herr Wormer, ich grüße Sie!

Holger Wormer: Ja, schönen guten Tag!

Timm: Bleiben wir mal bei den getrockneten Erdbeeren, die womöglich den Speiseröhrenkrebs einzudämmen helfen. Ja, im weiteren Verlauf des Artikels ist die Rede von einer Studie und von einem Präparat, das man aus dem Erdbeerextrakt zu gewinnen hofft. Klingt doch eigentlich alles ganz plausibel.

Wormer: Ja, das Problem bei so einer Studie ist, Sie haben es ja schon angesprochen, man wundert sich ja erst mal. Erdbeeren, kann das so eine Wirkung haben. Und das ist schon mal ein guter Indikator für Journalisten wie für Laien. Gesunden Menschenverstand nicht ausschalten, wenn jemand von einer Studie redet, weil es gibt auch gute, es gibt schlechte Studien. Und man kann hier schon mit so formalen Herangehensweisen das Ganze ein bisschen abklopfen. Zum Beispiel, mal zu gucken, wie viele Personen haben die denn eigentlich untersucht. Gab es da eine Vergleichsgruppe, die vielleicht keine Erdbeeren, ich sage mal, eingenommen hatte. Ja, und ist diese Studie zum Beispiel in einem Fachmagazin publiziert worden oder haben da Wissenschaftler nur was behauptet? Damit kommt man schon recht weit.

Timm: Welchen Hintergrund vermuten Sie denn, dass die Erdbeeren in diesem Zeitungsartikel so unglaublich erfolgversprechend sind?

Wormer: Wenn man genauer hinschaut, dann ist das Spannende bei dem angesprochenen Beitrag, dass der auf einer Pressemitteilung fußt, die noch dazu eins zu eins fast übernommen wurde, also ein journalistischer Kunstfehler, wenn man so will. Und das Interessante ist, wenn man sich dann die Pressemitteilung anschaut, da erfährt man mehr über den Hintergrund der Studie als in der eigentlichen Berichterstattung. Die wurde nämlich gesponsert von einem amerikanischen Erdbeerproduzentenverband.

Das muss nicht etwas heißen, es ist zunächst mal legitim, auch natürlich wenn die Industrie Studien unterstützt und finanziert, aber man sollte natürlich in solchen Fällen ganz genau hinschauen, ob die Ergebnisse nicht vielleicht nur zufällig ganz gut in die Interessen des Auftraggebers passen.

Timm: Gibt es das oft, so eine Art Mund-zu-Mund-Beatmung von einem medizinischen Hersteller, einer medizinischen Studie und der Berichterstattung?

Wormer: Also, wie oft es das tatsächlich gibt, ist wirklich schwer zu beurteilen, weil nicht immer ist es so offensichtlich. Zwar müssen bei solchen Studien, jedenfalls bei seriösen Fachmagazinen muss dann angegeben werden, wer das Ganze bezahlt hat, wer die Forschung bezahlt hat, aber Sie haben auch ganz, ganz viele Fälle, wo das nicht offenkundig wird. Und ein Beispiel, das ist vielleicht eine der perfidesten Herangehensweisen, manchmal finden auch erst mal Studien statt und werden dann erst veröffentlicht, wenn sie wirklich zum Bild des Auftraggebers passen.

Das heißt, ich gebe Ihnen ein Beispiel, ein Auftraggeber hat ein neues Medikament, will nun beweisen, dass das toll ist oder besser ist als etwas, was bisher auf dem Markt war, gibt fünf Studien in Auftrag, vielleicht noch in fünf verschiedenen Ländern, und in zweien davon zeigt sich, aha, das Medikament schneidet besser ab, in dreien aber zeigt sich, es schneidet schlechter ab. Dann besteht immer noch die Möglichkeit, dass diese drei Studien, wo es schlechter abschneidet, das Medikament, einfach unter den Tisch fallen gelassen werden, und nur die beiden, die, ja, wunschgemäß abgeschnitten sind, veröffentlicht werden. Und das ist dann so ein - man nennt das Publikations-Bias, das heißt, da wird man niemals davon erfahren, dass an anderer Stelle vielleicht gegenteilige Ergebnisse dagewesen wären.

Timm: Nun geschieht das ja gar nicht immer aus bösem Willen, sondern manchmal auch schlicht aus Hilflosigkeit, denn es ist ja im Stadium der wissenschaftlichen Forschung häufig so, dass man ein Wegzeichen findet, einen Stoff, eine Möglichkeit, die einem die Richtung weisen könnte, und das stimmt dann auch, aber es wird dann immer sofort als die Lösung verkauft. Ist das die Verkürzung, der Mangel an Information, was steckt dahinter?

Wormer: Ja, also die Verkürzung auf jeden Fall. Also dieser Glaube, es gibt immer eine eindeutige Antwort, selbst bei einer guten Studie bleibt immer noch eine gewisse Irrtumswahrscheinlichkeit und das liegt nun einmal in der Natur der Sache, damit muss man umgehen, man muss es dann als Wissenschaftler, als Arzt, aber auch als Journalist, nur eben auch darstellen, sagen: Also es gibt eine Wahrscheinlichkeit X, dass das Ganze hilft, oder man muss umgekehrt sagen: Diese Ergebnisse, die sind noch im Tierversuch, das bedeutet noch gar nichts, bitte jetzt nicht hier irgendwelche Hoffnungen schüren. Also einfach den Stand wirklich der Wissenschaft zu einer bestimmten Forschung, den muss man halt einfach darstellen, damit sich dann zum Beispiel ein Verbraucher, ein Patient oder auch ein Gesundheitspolitiker zum Beispiel eine vernünftige Meinung bilden kann.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton im Gespräch mit dem Wissenschaftsjournalisten und Medienwissenschaftler Holger Wormer. Er und sein Team versuchen, die Berichterstattung über medizinische Themen zu verbessern. Herr Wormer, dann wissen Sie aber auch, wie schwer das nach beiden Seiten hin ist, Medizin und Journalismus. Oft genug bewegt sich die Forschung ja auf hoffnungsvollem Gelände, aber man weiß nicht, ob etwas draus wird. Nach welchen Kriterien bewerten Sie denn genau bei Ihrem Mediendoktor, wie es heißt, die entsprechenden Berichte?

Wormer: Wir haben wirklich, damit das nicht willkürlich wird oder jemand sagt, man betreibt da Kollegenschelte, wie es ja in manchen Blogs der Fall ist, haben wir wirklich zehn Kriterien aus dem medizinjournalistischen Bereich, die auch international erprobt sind - also in Australien oder den USA gibt es ähnliche Projekte - und darüber hinaus haben wir aber auch rein journalistische Kriterien, um eben diese journalistische Komponente auch mit rein zu nehmen. Da gehört dann zum Beispiel auch dazu, ist das Ganze verständlich, ist die Themenauswahl in einem aktuellen Magazin auch tatsächlich aktuell? Und bei den medizinjournalistischen Kriterien, da geht es dann um so Dinge, ist denn der Nutzen tatsächlich belegt. Also Sie haben häufig eine Aussage beispielsweise, das Ganze hilft oder das Ganze hilft gut und so weiter.

Und wenn Sie das vergleichen mit anderen Formen der Berichterstattung, wenn, wir sitzen hier in Dortmund - wenn mir hier am Samstag Abend einer sagen würde, ja also Dortmund war besser beim Bundesligaspiel, ist die erste nahe liegende Frage: Ja um wie viel denn? Wie war das Ergebnis? Eins zu null, zwei zu null, drei zu null oder was auch immer, und genau das fehlt zum Beispiel bei vielen Nutzenangaben. Da wird dann nur gesagt, etwas ist angeblich besser, aber es wird nicht quantifiziert. Das ist so ein erster Punkt.

Zweiter Punkt ist Risiken und Nebenwirkungen. Es gibt fast nichts sozusagen, was irgendeine Wirkung haben soll, das nicht gleichzeitig irgendeine Nebenwirkung, und sei sie noch so klein, haben kann. Und auch das muss man thematisieren, auch Erdbeeren: Es gibt Leute, die reagieren darauf allergisch und so weiter. Selbst Erdbeeren können Nebenwirkungen haben. Und das sind so zwei von den Kriterien. Dazu kommen noch, ist eine Pressemeldung einfach übernommen worden, gibt es mehr als einen Experten, sind die Experten unabhängig, werden vielleicht auch mal Kosten thematisiert? Wie gut ist die Studienlage? Das sind alles Kriterien, die in die Bewertung mit einfließen.

Timm: Man kann das selber noch mal nachlesen auf dieser Website, mediendoktor.de. Wie reagieren denn eigentlich kritisierte Journalisten oder auch enttarnte Werbeabteilungen?

Wormer: Ja, von den enttarnten Werbeabteilungen, da bekommen wir erstaunlicherweise relativ wenig Reaktionen. Bei den Journalisten, ganz klar, im ersten Moment der Reflex, wer wird schon gerne kritisiert, das geht uns ja allen so, wenn wir Fehler machen. Aber das Interessante ist, wenn sich die Leute dann, die Kollegen aus dem Journalistenbereich mit dem Thema auseinandersetzen, auch mal anschauen, welchen Aufwand wir betreiben, bevor wir an einer Stelle sagen, das war jetzt vielleicht nicht ganz so gut oder das hätte man besser machen können, dann reagieren die eben erstaunlich konstruktiv.

Und so ist die ganze Seite ja auch angelegt. Ich bin ja selber Journalist, ich bin ein Freund des Journalismus. Ich halte das für eine absolut, auch in Zukunft, zentrale Aufgabe des Journalismus, eben diese unabhängigen Informationen auch im Medizin- und Wissenschaftsbereich zu liefern. Deswegen ist unser Ziel, an manchen Stellen einfach so eine Handreichung zu geben oder vielleicht auch mal ein Warnschild aufzustellen und zu sagen, das könnte man vielleicht beim nächsten Mal besser machen.

Und das geht so weit, dass einige der Leute, die vielleicht am Anfang nicht ganz so begeistert waren, weil sie keine besonders gute Bewertung bekommen haben, dann später rückgemeldet haben: Na ja, ich akzeptiere nicht alle eure Kriterien, aber ein paar davon habe ich mir an den Bildschirm gehängt oder habe sie jedenfalls verinnerlicht. Und habe so meine kleine Checkliste für die Berichterstattung. Und wenn wir das erreichen, dann ist eigentlich schon fast alles erfüllt, was wir wollen.

Timm: Wie kann man denn als Leser einen Riecher dafür bekommen, welche Informationen vertrauenswürdig sind und welche doch sehr wahrscheinlich, ja, einen PR-Hintergrund haben, denn das Wort Studie ist in jedem Fall ja erst mal vertrauenerweckend, auch weil man mit Studien, glaube ich, so gut wie alles beweisen kann.

Wormer: Genau das ist der Punkt. Also hier muss man auch einfach unterscheiden zwischen einem Fachjournalisten, Medizinjournalisten, der dann vielleicht auch wirklich in die Details so einer Studie reingehen kann und demjenigen, der vielleicht mit dieser ganzen Wissenschaft nicht so viel zu tun haben will, aber sich eben vielleicht aus einer Patientenperspektive dafür interessiert.

Und es ist einfach sehr hilfreich, wirklich so formale Fragen zu stellen: Ist denn die betreffende Studie zum Beispiel in einem begutachteten, die Fachleute sprechen auch von "Peer-Review", Fachmagazin veröffentlicht worden oder wurde die einfach nur auf einer Pressekonferenz vorgestellt? Ist es eine Studie, bei der jemand in einem Buch einfach nur etwas behauptet, oder ist das eben wirklich, ja, in so einem Fachmagazin veröffentlicht. Gibt es noch andere Studien dazu. Wie ich vorhin schon sagte, die Zahl der Patienten, die da wirklich eingebunden wurden. Wurden die Patienten, bei denen es gewirkt hat, wurde das verglichen also mit denjenigen, die zum Beispiel ein Medikament bekommen haben mit einer anderen Gruppe, die dann ein Scheinmedikament, ein Placebo bekommen haben.

Das sind alles Sachen, von denen ich sagen würde, die sind gar nicht so kompliziert, sondern da kann man wirklich mit so einer formalen Checkliste schon viel erreichen. Und, wie gesagt, gesunder Menschenverstand: Kann das sein? Oder was sagt es mir, wenn jemand was an ein oder zwei oder drei Patienten untersucht hat und denen ging es danach gut. Habe ich dann wirklich einen Beweis? Glauben Sie, wenn ich einmal eine sechs gewürfelt habe, dass der Würfel gezinkt ist. Also, da kommt man schon relativ weit.

Timm: Bleiben Sie skeptisch, meint Professor Holger Wormer von der TU Dortmund, und ich sage noch mal das Webportal: www.medien-doktor.de. Herzlichen Dank für das Gespräch.

Wormer: Gerne, danke!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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