Medizinische Selbsthilfe in den USA und Boliven

Der Do-It-Yourself-Patient

22:07 Minuten
Ein Mädchen mit einer Brille singt in einer Gruppe von Schülern
Brillen mit chinesischen Plastikgläsern helfen denen, die sich in Bolivien keinen Optiker leisten können. © Moritz Pompl
Von Dorothea Hahn und Moritz Pompl · 30.07.2019
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In den USA gibt es Zahnfüllungen im Drogeriemarkt für knapp acht Dollar, denn einen Zahnarzt können sich viele nicht leisten. In Bolivien gibt es Brillen für umgerechnet nur einen Dollar. Sie helfen, aber die Auswahl ist bescheiden: klein, mittel und groß.
Im reichsten Land des amerikanischen Kontinents, den USA, haben 74 Millionen Bürger keine Zahnversicherung. Eine Zahnversicherung ist für rund 35 Prozent der Bevölkerung Luxus. Deshalb gibt es in den einschlägigen Drogeriemärkten eine große Auswahl an Repair-Kits, die neben Füllungen und Klebstoffen auch Spachtel, Pinzette und Wattebäuschchen beinhalten, die man im Do-It-Yourself-Verfahren anwenden kann.

Klebstoff für die Zähne, Spachtel für die Füllung

Die USA-Korrespondentin der taz, Dorothea Hahn, hat schon einmal selbst Hand angelegt, als ihr auf einer Reise eine Krone herausgefallen ist. "Das ist kein Kinderspiel!" erinnert sie sich. "Das Material ist lausig und ich musste am Ende die Krone mit Zahnpasta wieder ankleben."
Produktfotografie eines Repairkit mit Spachtel, Wattebausch und Füllmaterialien.
Statt Zahnarzt müssen sich viele Arme und Unversicherte in den USA mit Repair-Kits aus der Drogerie behelfen. © Deutschlandradio
Der Zahnarzt hat es in ihrem Fall am nächsten Tag wieder provisorisch gerichtet, allerdings für 250 Dollar. Wer sich das nicht leisten kann, der muss sich mit Repair-Kits über Wochen und Monate helfen und die Schmerzen betäuben. Solche Produkte kosten zwischen sieben und 20 Dollar, sind also wesentlich günstiger als der Zahznarzt, halten aber natürlich nicht lange. Wenn man es nicht mehr aushält, bleibt noch das Ziehen des Zahnes. Das kostet im Durchschnitt knapp 300 Euro, wobei die Preise in den Städten deutlich höher liegen. "Und dann gibt es noch die Armenkliniken", sagt Dorothea Hahn. "In die kann jeder gehen, aber die Wartezeiten sind sehr lang. Denn die funktionieren nur deshalb gratis, weil Ärzte freiwillig und umsonst dort arbeiten - der Andrang ist entsprechend groß."

Drahtgestelle mit Gläsern aus China

Im ärmsten Land Südamerikas, in Bolivien, ist die Gesundheitsversorgung prekär, insbesondere auf dem Land. Zum Arzt geht man nur im Notfall. Eine Sehschwäche ist kein Notfall. Wer Probleme mit den Augen hat, der gewöhnt sich daran. Fatal für Kinder, die in der Schule lernen sollen.
Ein Mann steht vor einem Mädchen und bittet sie mit einer Geste nach rechts zu schauen.
Rider Cereza testet Jennifers Augen. Eine ganze Schulklasse ist gekommen.© Moritz Pompl
Das Team von "Lentes al instante", was übersetzt so viel wie "Sofortbrille" heißt, geht dagegen an. Rider Cereza und einige Freiwillige aus Deutschland sind in einer subtropischen Kleinstadt unterwegs und bieten Augenuntersuchungen an.
"Wir müssen schauen, wer heute alles kommt. Und dann werden wir bei jedem Patienten die Augen untersuchen, und die Brillen anpassen."

"Die Ein-Dollar-Brille" - Ein Projekt, das weltweit Erfolg hat

Hinter dem Projekt steckt die Erlanger NGO "Ein-Dollar-Brille". Sie hat in Boliviens größter Stadt Santa Cruz de la Sierra ihr Südamerika-Hauptquartier bezogen. In einem Armenviertel stellt sie aus Spezialdraht wie für Zahnspangen stabile und günstige Brillengestelle her. Dann schwärmt das Team aus, um die Brillen zu verteilen. Für zwei Wochen sind die Mitarbeiter jetzt in Ascención de Guarayos, um Menschen wie die 15-jährige Jennifer zu untersuchen. Sie spielt seit sechs Jahren Geige im Orchester, und heute Abend ist in der Kirche das große Jahres-Konzert.
"Jedes Konzert ist etwas Besonderes, weil wir alles von uns geben, damit es gut klingt. Wir üben und üben. Jeder gibt einfach sein Bestes. Bis es klappt."
Zwei Männer arbeiten an einer Bank und biegen Drähte.
In Santa Cruz werden die Brillen hergestellt. Bereits 15.000 wurden verteilt.© Moritz Pompl
Auf dem Schoß hat Jennifer einen Stapel Noten: Die Stücke für heute Abend. Die "Musica barroca" ist eine Mischung aus der europäischen Musik, die die Jesuiten mitgebracht haben, und südamerikanischen Rhythmen. Beim Spielen hat Jennifer in letzter Zeit immer öfter Probleme.
"Manchmal kann ich die Noten schlecht lesen. So verschwommen. Das ist sehr schwierig, weil, gut lesen muss man schon können zum Üben."

Den meisten Patienten kann das Team helfen

Jetzt wird Jennifer von Rider Cereza untersucht, so wie über 700 andere Patienten in den letzten Tagen. Er bringt sie in den Untersuchungsraum, den der Bürgermeister in einem Gebäude am Hauptplatz zur Verfügung gestellt hat. An fünf Tischen laufen die Augenuntersuchungen, mit Sehtests und Leseproben. Noch ist nicht sicher, ob Jennifer geholfen werden kann. Womöglich gehört sie zu den 20 Prozent der Patienten mit einer Hornhautverkrümmung oder ähnlichem. Dann bräuchte sie teure Spezialgläser.
Bei der Leseprobe klappt es bis zur vierten Zeile. Das Kleingedruckte kann Jennifer nicht mehr lesen. Und mit Gläsern? Rider hält Jennifer Linsen mit unterschiedlicher Stärke vors Auge.
Unterdessen ist eine ganze Schulklasse gekommen. Kinder und Senioren können sich dank Spenden kostenlos untersuchen lassen und bekommen auch die Brillen gratis. Alle anderen zahlen 80 Bolivianos, rund zehn Euro. Das entspricht dem durchschnittlichen Tageslohn eines Bolvianers. Im Ort gibt es zwei Optikerläden, aber die seien nur für die Reichen, sagt Suizo de Nilson, der Bürgermeister der Stadt.
"Die Läden haben wirtschaftliche Interessen und helfen den Leuten nicht. Und im katholischen Krankenhaus gibt es keine Augen-Abteilung."
Neysa wird ihre Ein-Dollar-Brille angepasst.
Neysa wird ihre Ein-Dollar-Brille angepasst.© Moritz Pompl
Gerade für Schülerinnen und Schüler ist es fatal, wenn sie schlecht sehen. Denn das bedeutet, sie kommen in der Schule nicht mit, schaffen keinen guten Abschluss und finden schlechter eine Arbeit.

Wer nicht sieht, der kann auch nicht lernen

Eine der Schülerinnen ist Neysa. Die Neunjährige ist auf dem linken Auge blind. Es ist seit einem Unfall mit einem Messer milchig-weiß. Mit dem rechten Auge sieht sie schlecht. Bei der Leseprobe, die Rafael Samorano vom Team mit Neysa macht, wird sie schnell müde. Doch bei der Leseprobe zeigt sich, dass Neysa mit den Linsen der "Ein-Dollar-Brille" selbst die kleinsten Zeilen lesen kann.
"Wir konnten das um vier Linien verbessern. So wird sie besser lernen können," sagt Teammitglied Rafael Samorano.
Zwei Tische weiter blickt auch die 15-jährige Jennifer durch Testgläser mit unterschiedlicher Stärke. Und auch ihr kann das Team helfen. Rider Cereza muss nur noch ein vorgebogenes Brillengestell nehmen und die passenden Gläser einsetzen. Von +7 bis -7 Dioptrien hat das Team alles dabei. Es sind Plastikgläser aus China, die sich später leicht austauschen lassen, wenn der Patient eine andere Stärke braucht. Damit die Bügel der Brille hinters Ohr passen, misst Rider die Länge und biegt den Draht zurecht.
Ob es jetzt auch mit dem Notenlesen besser klappt? Jennifer macht sich auf Richtung Kirche, zum Jahreskonzert. Sogar das lokale Fernsehen ist da. Das Orchester nimmt vor dem Altar Platz. Jennifer geht im Kopf noch einmal die Noten durch, bewegt dabei fast unmerklich die Lippen. Das Konzert beginnt.
"Ein bisschen nervös war ich schon. Aber die Noten hab ich gut gesehen," freut sich Jennifer Lopez Melgan.
Es ist das erste Mal seit Jahren, dass Jennifer die Noten dank ihrer neuen Brille wieder klar sehen kann.
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