Medizinische Hilfe für Kriegskinder

Von Mirjam Reusch-Helfrich · 06.11.2010
Seit 1967 versucht das "Friedensdorf International" aus Oberhausen, Kindern aus Kriegs-und Krisengebieten in Deutschland zu helfen. 99 Krankenhäuser beteiligen sich unentgeltlich. Im Frühjahr kamen wieder 85 Kinder aus Afghanistan.
"In Afghanistan zum Beispiel sind wir schon seit über 20 Jahren tätig, seit 1988, das Friedensdorf ist dort sehr bekannt, wir haben uns einen sehr guten Ruf erarbeitet. Und wenn wir so einen Hilfseinsatz haben, das heißt also wenn ein kleines Team vom Friedensdorf nach Afghanistan fliegt, um dort eine Auswahl der Kinder vorzunehmen, dann wird das zum Beispiel auch über das afghanische Radio bekannt gegeben, dass die Eltern sich also beim Roten Halbmond und den Mitarbeitern des Friedensdorfes melden können."

So beschreibt Heike Bruckmann vom konfessionell unabhängigen Friedensdorf International in Oberhausen die Kontaktaufnahme mit den Eltern der hilfsbedürftigen Kinder. Aufgenommen werden nur Kinder mit Verletzungen, die in ihrem Heimatland nicht adäquat versorgt werden können und deren Familien zu arm sind, um selbst für die notwendige medizinische Behandlung aufzukommen. Vor dem Abflug, betont Bruckmann, werden Eltern und Kinder in mehreren ausführlichen Gesprächen über ihren Aufenthalt in einem deutschen Krankenhaus, die Operationen und Therapien informiert und …

"…was auch ganz wichtig ist, es gibt immer auch einen Vertrag mit den Eltern, dass die Kinder auf jeden Fall nach ihrer Behandlung in Deutschland auch wieder in ihre Heimat zurückkehren."

Karl-Georg Hermanns: "Das Friedensdorf möchte aus diesem Grunde verhindern, dass die Kinder zu sehr in Deutschland integriert werden, dass sie sozusagen als kleine Deutsche hier herumlaufen… umgekehrt möchten wir natürlich auch, dass sie sich hier wohlfühlen, das ist schon ne Gratwanderung","

sagt Dr. Karl-Georg Hermanns, Chefarzt des St. Joseph Krankenhauses in Prüm in der Eifel. Sein Haus, eine Einrichtung der Caritas Trägergesellschaft und orientiert an den Grundwerten der katholischen Kirche, dem christlichen Menschenbild sowie der Barmherzigkeit, ist eines der 99 deutschen Krankenhäuser, die sich unentgeltlich an der Hilfsaktion beteiligen. Und Karl-Georg Hermanns weiß, wovon er spricht. Er hat schon vielen Friedensdorf-Kindern auf eigene Kosten mit seinen Operationen geholfen.

""Wenn man verhindert, dass einer amputiert wird, dann hat er natürlich in dem Land wesentlich bessere Chancen. In einem Entwicklungsland ist ein Amputierter ja aufs Betteln angewiesen, eine andere Chance hat er ja gar nicht. Wenn man das verhindern kann, hat man mein ich schon sehr viel erreicht."

Die Einzigartigkeit des Menschen als Einheit von Körper, Geist und Seele ist für Karl-Georg Hermanns unantastbar. Auch der neunjährige Mohammed aus Afghanistan kann dank der Operationen und der optimalen medizinischen Betreuung seinen früher gelähmten Arm wieder vollständig bewegen. Mehr als ein halbes Jahr dauerte sein Aufenthalt im Prümer Krankenhaus. Eine für Mohammed psychisch äußerst schwierige Zeit.

"'Wie war denn das, als Du hier angekommen bist, wie hast Du Dich da gefühlt?' - 'Nicht gut.'"

Rausgerissen aus seiner Familie, ohne eine ihm vertraute und seiner Sprache mächtigen Begleitperson, in fremder, bedrohlich wirkender Umgebung, litt er. Schwester Kerstin und Schwester Tanja erinnern sich.

Schwester Kerstin: "Meiner Meinung nach werden die Kinder vom Friedensdorf einfach hier abgesetzt, die kommen hier hin, der Begleiter vom Friedensdorf sagt 'bitteschön', dreht sich rum und geht. Und dann stehen die Kinder auf dem Flur und dann gucken die einen mit großen Augen an und wissen ja überhaupt nicht was passiert jetzt hier mit mir."

Schwester Tanja: "Anfangs hat er so gut wie gar nichts gegessen … und er hatte nur die Kleider dabei, die er anhatte, und die wollte er auch eigentlich nicht ausziehen."

Schwester Kerstin: "Das waren ja nur wie ein Kittel, ein Kittel und ne Hose. Er wollte nur im Bett liegen, Decke überm Kopf."

Schwester Tanja: "Da hat er immer gezeigt auf dieser blauen Mappe: Mama, Papa, Geschwister und das war ganz schrecklich, er war den ganzen Tag am Weinen und man konnte ihm nicht helfen."

Die blaue Mappe wurde Mohammeds kostbarster Besitz. In ihr hatte das Friedensdorf afghanische Vokabeln und kleine Sätzchen wie "ich habe Hunger", "ich habe Angst", "ich habe Schmerzen", vermerkt, daneben die deutsche Übersetzung. So konnte das Kind sich den Schwestern verständlich machen. Immer wieder bat er darum, zu Hause anrufen zu können.

Schwester Kerstin: "Das Friedensdorf will auch, dass die Kinder in dieser Zeit keinen Kontakt haben. Also wenn die Eltern Telefon hätten, dann denk ich, man könnte den Kindern die Angst nehmen, dass die wenigstens mal mit denen sprechen könnten, dass sie wissen, die leben noch und die warten auf mich und die freuen sich auf mich."

Heike Bruckmann vom Friedensdorf betont, dass telefonischer Kontakt aus Gründen der Gleichbehandlung nicht erwünscht sei. Schließlich hätten nicht alle Kinder ein Telefon zu Hause:

"Im Prinzip ist es so, dass die Eltern wissen, solange wir nichts hören, ist alles gut, weil unsere Partner mit den Eltern nur Kontakt aufnehmen, wenn etwas Außergewöhnliches geschieht."

Ansonsten können die Kinder Briefe schreiben. Diese werden dann bei einem Hilfseinsatz von den Mitarbeitern mit in die Länder genommen und dort verteilt. Für Erwachsene ein schwacher Trost, Das heimwehkranke, weinende Kind wird von den Schwestern, oftmals selbst erfahrene Mütter, getröstet, so gut sie können und soweit es ihre Zeit erlaubt: Mit liebevoller Zuwendung, kleinen Geschenken und Aufmerksamkeiten, kleinen Ausflügen.

Schwester Inga erinnert sich an ihren Dienst im Berliner evangelischen Wald-Krankenhaus, das auch ab und zu Friedensdorf-Kinder betreut, und schildert ihre Sicht der gelebten Nächstenliebe:

"Natürlich spielt für uns alle hier die Nächstenliebe eine Rolle, wir haben einfach das Bedürfnis, den Kindern zu helfen, durch unseren kleinen Beitrag ein Stück zur Verbesserung ihrer Lebenssituation beizutragen. Inwieweit das bei den Kollegen religiös motiviert ist, weiß ich nicht. Bei mir ist es das, es war mir immer wichtig, christliche Nächstenliebe zu praktizieren. Ich habe deshalb auch oft nach Feierabend noch am Bett der Kinder gesessen, oder bin früher gekommen, um mit ihnen zu spielen, um ihnen zu zeigen, dass jemand da ist, der sie liebt."
Kein leichtes Unterfangen, denn …

Heike Bruckmann: "Was den Kontakt oder die Bindung zu bestimmten Personen angeht, ist das natürlich eine schwierige Geschichte. Unsere Direktive heißt immer: Betreuen, aber nicht binden! Heißt, natürlich sollen die Kinder liebevoll betreut werden, entweder von unseren Ehrenamtlichen hier oder auch dem Pflegepersonal in den Krankenhäusern, aber es ist schon wichtig, dass man darauf achtet, dass diese Bindung nicht zu eng wird, dass bestimmte Personen also nicht die Rolle einer Ersatzmutter oder eines Ersatzvaters spielen sollen, einfach, weil von vornherein klar ist, dass die Kinder wieder in ihre Heimat zurückkehren."

Dennoch, ein Kind sucht sich immer eine Bezugsperson, der es vertraut, bei der es sich emotional aufgehoben fühlt, die hilft ihm, diese Zeit zu überstehen. Erst recht, wenn es sich um noch relativ kleine Kinder im Kindergartenalter handelt. Auch die Schwestern entwickeln Gefühle für die Kinder und der Abschied fällt ihnen schwer.

Schwester Kerstin: "Wenn die Kinder nach Hause gehen und dann ist halt nichts mehr, die sind halt weg und je nachdem, wie lange so ein Kind hier war, man hat eine Beziehung zu dem Kind. Wie zum Beispiel Harun, der war zwei Mal hier, da kommt ständig der Gedanke, was macht der jetzt, lebt er überhaupt noch, das ist schon schade, dass man da überhaupt keine Rückmeldung hat."

Betreuen, aber nicht binden, ein emotionaler Spagat. Der Wunsch, in Deutschland bleiben zu wollen, kommt bei den kleinen Kindern gar nicht auf, bei den Jugendlichen schon eher. Letztlich ist praktizierte Nächstenliebe im großen Stil nur auf den ersten Blick wunderbar einfach. Was schon Erwachsenen Probleme bereitet, Kulturschock, Sprachlosigkeit, das Gefühl allein zu sein, ist für Kinderseelen ein Albtraum; auch wenn die Natur sie mit der bewundernswerten Fähigkeit ausgestattet hat, sich relativ schnell an die Gegebenheiten anzupassen und zu integrieren. Heute sagt der neunjährige Mohammed, es gefalle ihm sehr gut im Krankenhaus und dass er unbedingt Arzt werden wolle, um den Kindern in seiner Heimat zu helfen.