Mediziner in der Kritik
Eugen Drewermann setzt sich in seinem Buch "An den Grenzen der Medizin. Märchen von Heilung und Hoffnung" mit dem Berufsstand des Arztes auseinander. Die Mediziner beschränkten sich auf das Verabreichen von Medikamenten und die Anwendung ihrer Schulmedizin, kritisierte Drewermann. Die wirklichen Leiden der Patienten kämen nicht in den Blick.
"Ursprünglich wollte ich Arzt werden. Und dann dachte ich: Die Not der Menschen ist seelisch viel größer - und wandte mich der Theologie zu."
So begründete Eugen Drewermann 2005 in der Sendung "Menschen bei Maischberger" seine Berufswahl. Die Auseinandersetzung mit dem Berufsstand der Mediziner in seinem aktuellen Buch "An den Grenzen der Medizin" dürfte daher das Ergebnis einer langen Beschäftigung mit diesem Thema sein. Als "Aufhänger" dient ihm die tiefenpsychologische Deutung zweier Märchen der Gebrüder Grimm – der "Parallelmärchen", "Der Herr Gevatter" und "Der Gevatter Tod". Drewermann argumentiert, die heutigen Mediziner seien wie die Ärzte aus diesen beiden Märchen: Sie beschränkten sich auf das Verabreichen von Medikamenten und die Anwendung ihrer Schulmedizin. Die wirklichen Leiden der Patienten kommen dabei gar nicht in den Blick.
"Nicht Herren über den Tod sind die Ärzte, sie sind seine Patenkinder."
In beiden Märchen sucht ein armer Vater einen Paten, einen "Gevatter", für das jüngste seiner bereits zahlreichen Kinder. In "Der Herr Gevatter" stößt der Vater auf einen Fremden, der dem Sohn ein Wasser schenkt, mit dem er Kranke gesund machen kann – vorausgesetzt, der Tod steht am Kopf des Kranken.
Steht er zu dessen Füßen, kann auch das Wunderwasser nichts mehr ausrichten. Im Märchen vom "Gevatter Tod" weist der arme Mann bei der Patensuche zunächst sowohl Gott als auch den Teufel zurück - und entscheidet sich statt ihrer für den Tod.
"Der Mann fragte: "Wer bist du?" "Ich bin der Tod, der alle gleich macht." Da sprach der Mann: "Du bist der rechte, du holst den Reichen wie den Armen ohne Unterschied, du sollst mein Gevattersmann sein." Der Tod antwortete: "Ich will dein Kind reich und berühmt machen, denn wer mich zum Freunde hat, dem kann’s nicht fehlen."
Der Tod schenkt seinem Patenkind ein Wunderkraut, mit dem es jeden Menschen gesund machen kann – aber wie in "Der Herr Gevatter" gelingt dies nur, solange der Tod am Kopfende des Krankenbettes steht. Der junge Mann wird bald zu einem berühmten Arzt. Als er aber zum König gerufen wird und den Tod zu dessen Füßen stehen sieht, greift er zu einer List:
"Er fasste also den Kranken und legte ihn verkehrt, so dass der Tod zu Häupten desselben zu stehen kam."
Der Tod ist erbost, lässt aber Gnade gegenüber seinem "Patenkind" walten. Als der Arzt sich in die sterbenskranke Tochter des Königs verliebt und die List ein zweites Mal anwendet, wird sein Lebenslicht vom Gevatter Tod ausgelöscht. Drewermann ist der Auffassung, das den die heutigen Medizinen das Wissen der Schamanen und anderer Heiler aus früherer Zeit um "ganzheitliche" Heilungsprozesse abhanden gekommen sei.
"Es ist ein jahrtausendealtes, menschheitliches Wissen, dass Krankheit und Tod in Tiefen des Erlebens reichen, die weit unterhalb der Schwelle des Bewusstseins liegen, und dass es schon von daher nötig ist, bis in diese Schichten der Seele vorzudringen, wenn man einen Menschen heilen will."
Heute sei der Arzt ein "Medizinmann" im wahrsten Sinne des Wortes. Und eben das macht seine Situation paradox.
"Es gibt für einen Arzt kein Ausweichen vor der widersprüchlichen Berufung seines Daseins, des Todes ungehorsames Patenkind zu sein, eine Existenz im Absurden, ohne Erlösung in dem Bemühen um Rettung, ein Leben im Fragment mitten in dem Bestreben, immer von neuem die zerbrechenden Teile des menschlichen Daseins zusammenzufügen."
Eine "Antwort" auf dieses Dilemma gibt Drewermann zufolge ein weiteres Märchen der Gebrüder Grimm: Der "Fundevogel".
"Es war einmal ein Förster, der ging in den Wald auf die Jagd, und wie er in den Wald kam, hörte er schreien. Er ging dem Schreien nach und kam endlich zu einem hohen Baum, und oben darauf saß ein kleines Kind. Es war aber die Mutter mit dem Kinde unter dem Baum eingeschlafen, und ein Raubvogel hatte das Kind in ihrem Schoße gesehen: da war er hinzugeflogen, hatte es mit seinem Schnabel weggenommen und auf den hohen Baum gesetzt."
Der Förster rettet den Jungen, nennt ihn "Fundevogel" und beschließt, ihn gemeinsam mit seiner Tochter Lenchen großzuziehen. Eines Tages weiht die alte Köchin des Försters das Lenchen in ihren Plan ein, den Jungen umzubringen. Gemeinsam fliehen die beiden Kinder vor der Köchin und ihren Häschern.
"Da sprach Lenchen "Fundevogel, verlässt du mich nicht, so verlass ich dich auch nicht". Da sprach der Fundevogel "nun und nimmermehr". Sprach Lenchen "werde zum Teich und ich die Ente drauf". Die Köchin aber kam herzu, und als sie den Teich sah, legte sie sich drüberhin und wollte ihn aussaufen. Aber die Ente kam schnell geschwommen, fasste sie mit ihrem Schnabel beim Kopf und zog sie ins Wasser hinein: da musste die alte Hexe ertrinken. Da gingen die Kinder zusammen nach Haus und waren herzlich froh; und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch."
"(Das Märchen ist) eine symbolische eine symbolische Gleichniserzählung auf die menschliche Existenz angesichts der ständigen Bedrohung durch den Tod (…)."
Darin ist die Köchin die Entsprechung zu "Mutter Natur", die ihre Kinder unablässig verfolgt, um sie schließlich zu töten. Diese aber schöpfen "Kraft aus dem Zusammenhalt". Drewermann sieht diese Einheit auch als Bild für die Persönlichkeit des Menschen im 21. Jahrhundert.
"Schlimmer noch als der Tod, so deutet es das Grimmsche Märchen an, ist für einen Menschen unzweifelhaft der drohende Zerfall seiner Persönlichkeit, oder, umgekehrt gesagt: das beste Mittel gegen die Bedrohung der menschlichen Existenz durch die Todesangst besteht in einem noch stärkeren Zusammenhalt von "anima" und "Ich" , von Instinkt und Wahrnehmung – des "Lenchens" und des "Fundevogels" also."
Durch ihren Zusammenhalt töten die Kinder den Tod und machen so das Leben unsterblich. Drewermann zeigt die universale symbolische Bedeutung dieser Bilder auf, die sich in Variationen durch die Kulturen der Welt ziehen. So sehr, wie Drewermann aus den ersten beiden Märchen die Absurdität des Arztberufes herausliest, so versöhnlich und tröstlich ist sein Fazit aus der Deutung des Märchens vom "Fundevogel".
"(Das Märchen zeigt), dass es den Tod im Grunde nicht gibt. Was es gibt, ist ein unendlicher Austausch in unendlichen Formen, ein Fließen und Sichdurchdringen von Kräften und Stoffen, die in immer neuen Strukturen und Mustern die Tendenz in sich tragen, alles, was an Komplexität und Schönheit nur irgend hervorgebracht werden kann, auch wirklich hervorzubringen."
Der "Austausch der Formen" manifestiert sich hier aber noch auf andere Art: Denn diese Märcheninterpretationen wurden unter anderen Titeln bereits vor einigen Jahren veröffentlicht. Drewermann-Exegeten dürften über das wenige Neue in diesem Buch mit Recht enttäuscht sein. Für den Unbeleckten aber dieses mit Querverweisen auf Film und Literatur, auf bildende Künste und fremde Kulturen gespickte Werk ein guter Einstieg in das Universum des unbequemen Querdenkers Drewermann.
So begründete Eugen Drewermann 2005 in der Sendung "Menschen bei Maischberger" seine Berufswahl. Die Auseinandersetzung mit dem Berufsstand der Mediziner in seinem aktuellen Buch "An den Grenzen der Medizin" dürfte daher das Ergebnis einer langen Beschäftigung mit diesem Thema sein. Als "Aufhänger" dient ihm die tiefenpsychologische Deutung zweier Märchen der Gebrüder Grimm – der "Parallelmärchen", "Der Herr Gevatter" und "Der Gevatter Tod". Drewermann argumentiert, die heutigen Mediziner seien wie die Ärzte aus diesen beiden Märchen: Sie beschränkten sich auf das Verabreichen von Medikamenten und die Anwendung ihrer Schulmedizin. Die wirklichen Leiden der Patienten kommen dabei gar nicht in den Blick.
"Nicht Herren über den Tod sind die Ärzte, sie sind seine Patenkinder."
In beiden Märchen sucht ein armer Vater einen Paten, einen "Gevatter", für das jüngste seiner bereits zahlreichen Kinder. In "Der Herr Gevatter" stößt der Vater auf einen Fremden, der dem Sohn ein Wasser schenkt, mit dem er Kranke gesund machen kann – vorausgesetzt, der Tod steht am Kopf des Kranken.
Steht er zu dessen Füßen, kann auch das Wunderwasser nichts mehr ausrichten. Im Märchen vom "Gevatter Tod" weist der arme Mann bei der Patensuche zunächst sowohl Gott als auch den Teufel zurück - und entscheidet sich statt ihrer für den Tod.
"Der Mann fragte: "Wer bist du?" "Ich bin der Tod, der alle gleich macht." Da sprach der Mann: "Du bist der rechte, du holst den Reichen wie den Armen ohne Unterschied, du sollst mein Gevattersmann sein." Der Tod antwortete: "Ich will dein Kind reich und berühmt machen, denn wer mich zum Freunde hat, dem kann’s nicht fehlen."
Der Tod schenkt seinem Patenkind ein Wunderkraut, mit dem es jeden Menschen gesund machen kann – aber wie in "Der Herr Gevatter" gelingt dies nur, solange der Tod am Kopfende des Krankenbettes steht. Der junge Mann wird bald zu einem berühmten Arzt. Als er aber zum König gerufen wird und den Tod zu dessen Füßen stehen sieht, greift er zu einer List:
"Er fasste also den Kranken und legte ihn verkehrt, so dass der Tod zu Häupten desselben zu stehen kam."
Der Tod ist erbost, lässt aber Gnade gegenüber seinem "Patenkind" walten. Als der Arzt sich in die sterbenskranke Tochter des Königs verliebt und die List ein zweites Mal anwendet, wird sein Lebenslicht vom Gevatter Tod ausgelöscht. Drewermann ist der Auffassung, das den die heutigen Medizinen das Wissen der Schamanen und anderer Heiler aus früherer Zeit um "ganzheitliche" Heilungsprozesse abhanden gekommen sei.
"Es ist ein jahrtausendealtes, menschheitliches Wissen, dass Krankheit und Tod in Tiefen des Erlebens reichen, die weit unterhalb der Schwelle des Bewusstseins liegen, und dass es schon von daher nötig ist, bis in diese Schichten der Seele vorzudringen, wenn man einen Menschen heilen will."
Heute sei der Arzt ein "Medizinmann" im wahrsten Sinne des Wortes. Und eben das macht seine Situation paradox.
"Es gibt für einen Arzt kein Ausweichen vor der widersprüchlichen Berufung seines Daseins, des Todes ungehorsames Patenkind zu sein, eine Existenz im Absurden, ohne Erlösung in dem Bemühen um Rettung, ein Leben im Fragment mitten in dem Bestreben, immer von neuem die zerbrechenden Teile des menschlichen Daseins zusammenzufügen."
Eine "Antwort" auf dieses Dilemma gibt Drewermann zufolge ein weiteres Märchen der Gebrüder Grimm: Der "Fundevogel".
"Es war einmal ein Förster, der ging in den Wald auf die Jagd, und wie er in den Wald kam, hörte er schreien. Er ging dem Schreien nach und kam endlich zu einem hohen Baum, und oben darauf saß ein kleines Kind. Es war aber die Mutter mit dem Kinde unter dem Baum eingeschlafen, und ein Raubvogel hatte das Kind in ihrem Schoße gesehen: da war er hinzugeflogen, hatte es mit seinem Schnabel weggenommen und auf den hohen Baum gesetzt."
Der Förster rettet den Jungen, nennt ihn "Fundevogel" und beschließt, ihn gemeinsam mit seiner Tochter Lenchen großzuziehen. Eines Tages weiht die alte Köchin des Försters das Lenchen in ihren Plan ein, den Jungen umzubringen. Gemeinsam fliehen die beiden Kinder vor der Köchin und ihren Häschern.
"Da sprach Lenchen "Fundevogel, verlässt du mich nicht, so verlass ich dich auch nicht". Da sprach der Fundevogel "nun und nimmermehr". Sprach Lenchen "werde zum Teich und ich die Ente drauf". Die Köchin aber kam herzu, und als sie den Teich sah, legte sie sich drüberhin und wollte ihn aussaufen. Aber die Ente kam schnell geschwommen, fasste sie mit ihrem Schnabel beim Kopf und zog sie ins Wasser hinein: da musste die alte Hexe ertrinken. Da gingen die Kinder zusammen nach Haus und waren herzlich froh; und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch."
"(Das Märchen ist) eine symbolische eine symbolische Gleichniserzählung auf die menschliche Existenz angesichts der ständigen Bedrohung durch den Tod (…)."
Darin ist die Köchin die Entsprechung zu "Mutter Natur", die ihre Kinder unablässig verfolgt, um sie schließlich zu töten. Diese aber schöpfen "Kraft aus dem Zusammenhalt". Drewermann sieht diese Einheit auch als Bild für die Persönlichkeit des Menschen im 21. Jahrhundert.
"Schlimmer noch als der Tod, so deutet es das Grimmsche Märchen an, ist für einen Menschen unzweifelhaft der drohende Zerfall seiner Persönlichkeit, oder, umgekehrt gesagt: das beste Mittel gegen die Bedrohung der menschlichen Existenz durch die Todesangst besteht in einem noch stärkeren Zusammenhalt von "anima" und "Ich" , von Instinkt und Wahrnehmung – des "Lenchens" und des "Fundevogels" also."
Durch ihren Zusammenhalt töten die Kinder den Tod und machen so das Leben unsterblich. Drewermann zeigt die universale symbolische Bedeutung dieser Bilder auf, die sich in Variationen durch die Kulturen der Welt ziehen. So sehr, wie Drewermann aus den ersten beiden Märchen die Absurdität des Arztberufes herausliest, so versöhnlich und tröstlich ist sein Fazit aus der Deutung des Märchens vom "Fundevogel".
"(Das Märchen zeigt), dass es den Tod im Grunde nicht gibt. Was es gibt, ist ein unendlicher Austausch in unendlichen Formen, ein Fließen und Sichdurchdringen von Kräften und Stoffen, die in immer neuen Strukturen und Mustern die Tendenz in sich tragen, alles, was an Komplexität und Schönheit nur irgend hervorgebracht werden kann, auch wirklich hervorzubringen."
Der "Austausch der Formen" manifestiert sich hier aber noch auf andere Art: Denn diese Märcheninterpretationen wurden unter anderen Titeln bereits vor einigen Jahren veröffentlicht. Drewermann-Exegeten dürften über das wenige Neue in diesem Buch mit Recht enttäuscht sein. Für den Unbeleckten aber dieses mit Querverweisen auf Film und Literatur, auf bildende Künste und fremde Kulturen gespickte Werk ein guter Einstieg in das Universum des unbequemen Querdenkers Drewermann.