Aufarbeitung von Medikamententests

Als Heimkinder Versuchsobjekte waren

07:48 Minuten
SOS Morsecode aus Pillen gelegt auf einem rosa Hintergrund.
Erst 2016 wurde durch die Pharmazeutin Sylvia Wagner publik, dass an Heimkindern in der Bundesrepublik Medikamentenversuche durchgeführt wurden. © imago / Science Photo Library / Igor Stevanovic
Von Stephanie Kowalewski |
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Sie bekamen Pillen, Säfte, Spritzen: Gegen ihren Willen wurden in der Bundesrepublik über Jahrzehnte Medikamente an Heimkindern erprobt. Betroffene leiden bis heute unter den Nebenwirkungen, und die Aufarbeitung kommt nur schleppend voran.
Hans Jürgen Oldenburg kennt seine Eltern nicht. Er hat seine gesamte Kindheit und Jugend in Heimen verbracht. Die meiste Zeit war er in einer Einrichtung der Evangelischen Stiftung Hephata in Mönchengladbach. Es war die Hölle, sagt der heute 65-Jährige.  
„Wir haben Medikamente in der Jugendzeit bekommen, also in der Pubertätszeit überwiegend starke Beruhigungstabletten, Psychopharmaka – wahrscheinlich auch gegen den Sexualtrieb. Und da war man so benommen, dass man gar nicht mehr Herr der Lage war.“
So wie ihm ging es vermutlich Tausenden Kindern und Jugendlichen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Heimen, Psychiatrien und Behinderteneinrichtungen der alten Bundesrepublik lebten. Alles deutet darauf hin, dass sie bis etwa 1980 mit Pillen, Säften und Spritzen ruhiggestellt und sogar für Medikamentenversuche benutzt wurden, sagt die Pharmazeutin Sylvia Wagner. Sie hat den Skandal mit ihrer Forschungsarbeit 2016 erstmals öffentlich gemacht.
„Wo ich nachweisen konnte, dass Medikamente an Heimkindern getestet worden sind. Und zwar ohne Einwilligung der Betroffenen oder der gesetzlichen Vertreter. Impfstoffe, Psychopharmaka wie Neuroleptika, triebhemmende Präparate, Präparate, die zum Teil noch gar nicht auf dem Markt waren, sind getestet worden.“

Die Opfer leiden bis heute

Seitdem haben einzelne Einrichtungen und auch Träger wie der Landschaftsverband Rheinland ihre Archive von Forschern auswerten lassen. Mit Ausnahme von Schleswig-Holstein und Niedersachsen fehlen allerdings bisher Überblicksstudien für die betroffenen westlichen Bundesländer.
Für die Opfer von damals, die heute überwiegend im Rentenalter sind, ist das unerträglich, betont Uwe Werner. Der 70-Jährige hat die erste „Community ehemaliger Heimkinder NRW“ in Mönchengladbach gegründet und ist selbst betroffen.
„Was wehtut, ist dieses ohrenbetäubende Schweigen der Politiker für eines der schlimmsten deutschen Nachkriegsverbrechen. Was ist mit den Medikamenten? Wie hat man die Kinder sediert und welche Folgen sind heute da?“
Auch für den nordrhein-westfälischen Sozialminister Karl-Josef Laumann ist diese Zeit ein „dunkles Kapitel der Landesgeschichte“ das aufgeklärt werden müsse. Dazu hat das Land nun 430.000 Euro zur Verfügung gestellt und eine Studie bei einer Forschergruppe unter der Leitung des Düsseldorfer Medizinhistorikers Heiner Fangerau in Auftrag gegeben. Sie soll die Hintergründe, das Ausmaß und die Verantwortlichen aufdecken, sagt Heiner Fangerau.
„Ich rechne damit, dass wir ähnlich wie die Niedersachsen und die Schleswig-Holsteiner sowohl Arzneimittelstudien finden als auch den missbräuchlichen Einsatz von Arzneimitteln, zum Beispiel zur Disziplinierung.“

„Betonspritzen“ für Kinder 

Die Heime waren damals überfüllt, es gab wenig und meist nur schlecht ausgebildetes Personal. Schlafsäle mit 25 Kindern und mehr waren normal.
„Und mein Eindruck ist, dass da der Griff zu dem sedierenden Arzneimittel, also das, was Schlaf erzeugt, sehr, sehr schnell erfolgt ist. Man sprach von Betonspritzen, eben Kinder, die dann wie gelähmt waren, durch diese Medikamente oder in einem dauerhaften Schlaf versetzt worden sind.“

Schon jetzt ist auch belegt, dass die Kinder Medikamente teilweise in durchaus toxischen – also giftigen – Mengen verabreicht bekamen, betont die Pharmazeutin Sylvia Wagner.
„Wo sich zum Beispiel in einem Fall sogar die Vertreter des Pharmaunternehmens geäußert haben, dass das viel zu hoch dosiert wäre. Da hatte ein Arzt ein Neuroleptikum bis zu achtmal zu hoch dosiert, und die Kinder hatten heftigste Nebenwirkungen von Krämpfen, die sind umgekippt. Das war schon dramatisch.“

Hohe Dosen mit lebenslangen Nebenwirkungen

Wenn gesunden Kindern missbräuchlich Medikamente in hohen Dosen und oft über lange Zeit hinweg verabreicht werden, hat das mitunter lebenslange Nebenwirkungen wie Diabetes, Bluthochdruck und psychische Probleme. Auch Hans Jürgen Oldenburg hat ein Leben lang mit Angstzuständen und Gedächtnisschwierigkeiten zu kämpfen. Für den heutigen Rentner sind das ganz klar Langzeitfolgen der vielen Medikamente, die ihm über Jahre ungefragt verabreicht wurden.
„Wir können es nicht beweisen. Wir können es nur vermuten. Aber dass die Medikamente verabreicht worden sind, das ist Fakt. Die Einrichtungen haben wohl auch über die Medikamente Buch geführt. Das waren so Din A 4-Bücher. Da wurde genau eingetragen, wer wann wie welche Medikamente bekam. Aber da haben wir ja keinen Zugang zu.“
Genau diesen Zugang versucht nun das Forscherteam um Heiner Fangerau zu bekommen. Dabei sind sie allerdings auf die Kooperationsbereitschaft der Einrichtungen, Träger und Pharmaunternehmen angewiesen, erklärt der Medizinhistoriker. 
„Wir sind ein bisschen in einer Falle. Aus Sicht der Betroffenen kommt diese Forschung viel zu spät. Aus der Sicht der Datenschützer, aus der Sicht der Historikerinnen und Historiker ist diese Forschung viel zu früh, weil die Archive eben noch alle gar nicht ihre Akten freigegeben haben für historische Forschung. Das heißt, es muss eigentlich niemand, es wäre toll, wenn wir dürfen.“

Wer hat Schuld?

Zwei Jahre hat das Forscherteam Zeit, dann sollen die Ergebnisse der Studie veröffentlicht werden. Schon jetzt lässt sich sagen, dass Medikamente missbräuchlich eingesetzt und an Heimkindern getestet wurden, sagt Heiner Fangerau. Ob dafür jemand zur Rechenschaft gezogen wird oder die Opfer Ansprüche auf Entschädigung ableiten können, sei aber eher unwahrscheinlich, vermutet er.“
„Die Schuldfrage, die werden wir nicht klar belegen können, fürchte ich, weil es eher tatsächlich ein gesamtgesellschaftliches Versagen gibt. Alles, was wir für die Betroffenen leisten können, ist ihnen in gewisser Weise eine Anerkennung ihrer eigenen Geschichte zu geben. Wir können zeigen, dass die Geschichten der Betroffenen nicht nur zutreffen, sondern dass das ein größeres Phänomen ist als Einzelfälle.“
Uwe Werner von der „Community ehemaliger Heimkinder NRW“ will sich damit nicht zufriedengeben. Er pocht darauf, dass politische Verantwortung übernommen wird. Und dass den Opfern endlich geholfen wird. Schließlich sei das Landesjugendamt – also eine staatliche Stelle – für das Wohl der Kinder und die Aufsicht der Heime zuständig gewesen.
„Das heißt, hier müssen Entschädigungssummen für die Betroffenen gezahlt werden. Diese Aufarbeitung ist wichtig. Aber unsere Lebenserwartung ist überschaubar. Wenn dieser Staat glaubwürdig sein will, dann muss er eine andere Opferkultur an den Tag legen. Unsere Forderungen waren ja eigentlich immer eine monatliche Rente – wie in Österreich – von 300 Euro. Weil die meisten haben ja kein Beruf erlernen können und heute von Aufstockung leben. Mir geht es um Lebensqualität. Und die brauchen sie aber jetzt!“
Einer der ganz wenigen Betroffenen, die bislang überhaupt auf Entschädigung geklagt haben, ist Rolf-Michael Deckers. Nach einem zehn Jahre dauernden Prozess erkannte das Sozialgericht Bremen im Februar 2021 seine erlittenen Schädigungen durch seine Heimaufenthalte an und sprach ihm eine Beschädigtenrente zu. 

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