Medienschelte

Warum man den Mund aufmachen darf

Die Mikrofone von ARD, ZDF, N24, RTL, n-tv, VOX und der Deutschen Welle: Das Foto wurde im Mai 2016 bei einer Pressekonferenz in Berlin aufgenommen.
Die Mikrofone von ARD, ZDF, N24, RTL, n-tv, VOX und der Deutschen Welle: Das Foto wurde im Mai 2016 bei einer Pressekonferenz in Berlin aufgenommen. © picture alliance / dpa
Von Barbara Sichtermann · 23.12.2016
Die Leute schimpfen über die Medien, und die Medien schimpfen über die Leute. Das ist kein guter Zustand. Man sollte das Publikum auch mal dafür loben, dass es genau so ist, wie es ist. Denn Murren zählt zu den Formen der Kritik.
Zu Helmut Kohls Zeiten hieß es ein bisschen geheimnisvoll: "Die Menschen draußen im Lande." Jetzt sagen Politiker und Medienmacher, sagt auch die Kanzlerin einfach nur: "Die Menschen." Gemeint sind Sie und ich und alle Staatsbürger und Wählerinnen, mithin: das Volk. Wenn es um Medien geht, sagt man "Publikum".

Das Publikum - Sie auch! - sind mächtig

Diese Leute, die ihre Zeitung lesen, im Internet surfen, Radio hören und fernsehen, sind auf ihre Art sehr mächtig, denn die Medienmacher selbst und auch die Politiker sind von ihnen abhängig. Kann sich doch das Publikum beschweren und sagen: "Wir finden, das geht alles in die falsche Richtung". Oder: "Wir verstehen kein Wort". Oder: "Ihr belügt uns". Und das machen sie neuerdings immer öfter.
Die Medienmacher reagieren nervös und fragen: Was ist los mit ihrem Publikum, mit "den Menschen"? So bockig scheinen sie lange nicht gewesen zu sein. In ihrer Nervosität vergessen die Gatekeeper an den Schalthebeln der öffentlichen Meinung, dass Bockigkeit nicht unbedingt schlecht sein muss, ja, dass es sich vielleicht empfiehlt, die Perspektive umzukehren.

Auch Murren kann kritischen Geist verkörpern

Kritischer Geist wurde ja in der Bevölkerung immer wieder vermisst. Jetzt ist er da - und das ist auch wieder nicht in Ordnung. Oder? Kann das Murren des Volkes schon "kritischer Geist" sein? Im Grunde ja. Kritik darf nicht vorab mit bestimmten Inhalten verbunden sein, nicht einmal mit guten Absichten.
So gesehen ist es wunderbar, dass in unserem Land so viel gemurrt wird. Das spricht für Freiheit. Es gibt viele Länder auf der Erde, in den Kritiker nicht sehr lange murren, weil sie weggeschlossen werden. Hierzulande darf man dagegen sein, ja sogar lästern und toben.
Der Ton ist bisweilen vulgär. Und weil die Lästerer in den sozialen Medien neue Plattformen zur Verfügung haben, die den Machern der alten Medien ein bisschen unheimlich sind, redet man fast nur von ihnen.
Die ganze Wirklichkeit sieht weit freundlicher aus, als der Kampf der "Menschen" und Meinungen um Gehör und den richtigen Weg derzeit vermuten lässt. Denn das große Publikum, das die Print- und elektronischen Medien nutzt, um sich zu informieren, das die sozialen Medien nutzt, um selbst Informationen in die Welt zu schütten, das hat keineswegs seinen Verstand verloren.

Das große Publikum ist aufgeklärt

Es sitzt weder geschlossen in einem Echoraum, noch lässt es dort einen Shitstorm nach dem anderen los. Im großen Theater von Politik und Kultur und deren Vermittlung sind die Sitten gut oder sogar besser als einst.
Mehrheiten schätzen Fairness und sind lernfähig, und wenn auf den hinteren Plätzen oder auch auf den Seitenrängen gepöbelt wird, so ist das zu verkraften und war im übrigen immer so.
Das große Publikum ist aufgeklärt, es nimmt Zwischentöne wahr und differenziert, es streitet und arbeitet an seiner Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen. Man kann sogar sagen: Es geht mit seiner Macht mehrheitlich verantwortungsvoll um.
In den öffentlich-rechtlichen Medien hat das Publikum sogar ein eigenes Instrument in der Hand, sind diese doch im Besitz der Gebührenzahler. Man kann diese Medien und ihr Publikum als Regelkreis verstehen: Die Medien locken ihr Publikum zugleich an und fordern es heraus, und das Publikum steuert seine Medien durch Zu- oder Abwendung, Ein- oder Ausschalten.
Wenn man es so sieht, muss man beiden Agenten des medialen Spiels bescheinigen, dass sie ihren Aufgaben gerecht werden. Denn ein Niveauverlust ist nicht festzustellen. Die Menschen "draußen im Lande" und daheim vor dem Bildschirm reden zwar heute mehr mit als früher. Aber das ist gut so. Denn sie lernen dabei – und erziehen die Medienmacher.

Barbara Sichtermann, Jahrgang 1943, lebt als freie Autorin in Berlin. Ihre letzten Buchveröffentlichungen: "Fünfzig Klassiker: Erotische Literatur" (mit Joachim Scholl) und "Was Frauen Sex bedeutet". Im Februar 2017 erscheint "Das ist unser Haus! Die Geschichte einer Hausbesetzung."

Die Publizistin Barbara Sichtermann.
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