Journalisten als "Helfershelfer" von Attentätern
Würzburg, München, Ansbach: Wenn plötzlich die Gewalt in den Alltag bricht, bleiben viele körperlich und seelisch verletzte Menschen zurück. Der Traumapsychologe Georg Pieper hilft ihnen - und macht den Reportern vor Ort schwere Vorwürfe.
Vor dem Hintergrund des Amoklaufs in München macht der Traumapsychologe Georg Pieper den Medien schwere Vorwürfe.
Im Deutschlandradio Kultur sagte Pieper, gerade bei einem Amoklauf würden viele Journalisten zu "Helfershelfern" des Attentäters. "Das muss man sich ganz klar vor Augen führen", sagte Pieper: "Denn der Attentäter möchte viel Aufmerksamkeit erleben, möchte einmal im Mittelpunkt stehen."
Er sehe auch die Seite der Journalisten, sagte Pieper. Diese wollten informieren – das sei auch sehr wichtig für die Bevölkerung. Dennoch müsse man die Arbeit der Reporter auch kritisch betrachten.
"In der Regel werden die Medienvertreter als sehr belastend erlebt", sagte der Psychologe – vor allem von Menschen, die jemanden bei einer solchen Tat verloren hätten oder selbst bedroht oder verletzt worden seien.
Diese Menschen ständen so unter Schock und seien so verwirrt, dass sie überhaupt nicht entscheiden könnten, ob sie mit einem Journalisten reden wollten oder nicht. "Sie stolpern da häufig rein" und fühlten sich hinterher "schlimm ausgenutzt", sagte Pieper.
Das Gespräch im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Erst Würzburg, wo ein Mann mit einer Axt fünf Menschen lebensgefährlich verletzte, dann erschossen wurde von der Polizei, dann ein 18-Jähriger, der in München neun Menschen erschossen hatte, auch sich selbst später. Eine Stadt im Ausnahmezustand, könnte man meinen, und natürlich denkt man zuerst daran, wie man den Angehörigen, Überlebenden und Freunden der Opfer helfen kann und was so eine extreme Tat mit auch scheinbar völlig unbetroffenen Bewohnern der Stadt, auch mit Zeugen anstellt.
Darüber will ich mit dem Traumapsychologen Georg Pieper sprechen. Er hat Zeugen des Mordes an der Lehrerin in Meißen betreut, Überlebende des Anschlags in Istanbul und hat als Psychologe nach dem Massenmord im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 2002 auch die psychologische Hilfe koordiniert. Schönen guten Morgen!
Georg Pieper: Schönen guten Morgen!
Billerbeck: Ein Massenmord wie der am Freitagabend in München mit zehn Toten und vielen Zeugen in der Stadt, wer braucht da am dringendsten und sofort psychologische Hilfe?
Pieper: Zunächst mal wirklich alle die Menschen, die direkt etwas erlebt haben, die direkt dabei haben. Dafür haben wir notfallpsychologische Teams, die in München auch im Einsatz waren und die Menschen dann direkt vor Ort betreuen.
Die Opfer kommen erst mal nicht zur Ruhe
Der Sinn dieser Erstbetreuung besteht darin, dass man den Menschen erklärt, dass sie einen extremen Ausnahmezustand erlebt haben, dass man sie dabei begleitet, dass sie sich langsam wieder beruhigen, dass man ihnen vor Augen hält, dass die akute Gefahr dann vorbei ist, was für viele sogar in den ersten Tagen nur schwer nachvollziehbar ist.
Wenn man in einer schweren Ausnahmesituation sich befindet, dann glaubt man, dass geht immer weiter. Das Ganze ist vorbei, das wird ihnen erklärt, und das wird ihnen auch aufgezeigt, wie sie am ehesten wieder zur Ruhe kommen. Das sind so die ersten Maßnahmen.
Billerbeck: Das heißt, man bringt diese Zeugen dieser Tat erst mal in Sicherheit, beruhigt sie und versucht sie auch abzuschotten. Denn da sind ja unglaublich viele Medien, Journalisten unterwegs, die natürlich versuchen, solche Zeugenaussagen zu bekommen.
Pieper: Ja, das ist eine große Belastung für viele Betroffene. Es gibt natürlich auch manche, die sich gerne da in den Vordergrund spielen, aber in der Regel werden die Medienvertreter als sehr belastend erlebt, vor allen Dingen natürlich von Menschen, die nicht nur das beobachtet haben, sondern die dabei jemanden verloren haben oder die vielleicht sogar selbst bedroht waren oder selbst verletzt sind.
Die sind dann in so einem aktivierten Zustand, die stecken so voller Adrenalin und sind so verwirrt, dass sie das gar nicht richtig entscheiden können, will ich jetzt wirklich mit einem Journalisten reden und ihm da meinen Seelenzustand auch präsentieren, und sie stolpern da häufig rein und fühlen sich nachher häufig schlimm ausgenutzt und bereuen das, was sie da gesagt haben.
Billerbeck: Ich kann mich erinnern, ich war in Erfurt nach dem Massenmord im Gutenberg-Gymnasium, und man ist ja da selbst als Journalistin in einer unglaublich zwiespältigen Situation: Einerseits muss man seine Arbeit machen, andererseits möchte man nicht dafür sorgen, dass Opfer weiter oder erneut traumatisiert werden. Was Sie empfehlen Sie denn da – auch Menschen, die solche Erlebnisse hatten, reagieren ja unterschiedlich und haben unterschiedliche Bedürfnisse –, wie versuchen Sie das einzuschätzen und herauszubekommen?
Betroffene fühlen sich von Journalisten ausgenutzt
Pieper: Viele, die so etwas erlebt haben und so unter Schock stehen, die können nicht unterscheiden, wenn jetzt ein Journalist kommt oder wenn ein Psychotherapeut oder Notfallpsychologe kommt, wer hilft mir wirklich, und sie werfen das alles in einen Topf, und viele fühlen sich dann eben wirklich so ausgenutzt von Journalisten, weil sie dann glauben, das würde ihnen helfen.
Ich sehe auch die Journalistenseite, das ist natürlich auch ein schwieriges Feld. Also man möchte informieren, das ist ja auch sehr wichtig für die Bevölkerung, aber wir müssen das Ganze auch kritisch sehen, dass gerade bei diesen Amokläufen natürlich letztendlich viele Journalisten zu Helfershelfern des Attentäters werden. Das muss man sich mal ganz klar vor Augen führen, denn der Attentäter möchte viel Aufmerksamkeit erleben, möchte einmal im Mittelpunkt stehen.
Sie fragten nach den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen – wir müssen dann wirklich schauen, wer ist direkt betroffen, also wer ist verletzt worden, wer hat jemanden verloren, wo sind die Eltern des Opfers, wo sind die Geschwister des Opfers, welche Bezüge gibt es da, und man kann dann so Betroffenenkreise sozusagen definieren von sehr nah betroffen, mittelschwer betroffen und dann so am Rande betroffen.
Wir müssen darauf achten, dass wir dann im Folgenden diesen Menschen aus den verschiedenen Betroffenenkreisen auch entsprechende Angebote machen, zusammenzukommen, um sich gemeinsam auszutauschen darüber, was sie erleben mussten.
Billerbeck: Hat sich die Hilfe da im Laufe – weil wir haben ja nun mehrere solcher Attentate, solcher Anschläge erlebt – hat sich da die psychologische Hilfe professionalisiert, und kann man aus Ihrer Sicht auch nach solchen Anschlägen von – ich sage mal in Anführungsstrichen – auch "verwundeten Städten" sprechen?
Pieper: Die Hilfe hat sich sehr professionalisiert. Also wenn ich so den Zeitraum, den ich überblicke, und ich war zum ersten Mal im Einsatz vor fast 30 Jahren beim Grubenunglück von Borken, da wussten wir damals noch sehr wenig darüber, wie wir mit Menschen umgehen, die akut solche Not- und Belastungs- und Traumasituationen erlebt haben.
Wir mussten in der Zwischenzeit viele, viele andere Situationen durchstehen, und uns ist immer klarer geworden, was die Menschen wirklich brauchen.
Wichtig sind vor allem differenzierte Hilfsangebote
Wir machen heute, zum Beispiel nach München, also sehr differenzierte Angebote. Wir haben festgestellt, es bringt wenig, zu sagen, also alle, die jemanden verloren haben, die kommen jetzt in einer Gruppe zusammen, weil dann entstehen in einer solchen Gruppe sehr leicht Konkurrenzen auf eine sehr ungute Art, also dass zum Beispiel dann Mütter das Gefühl haben, das ist doch viel schlimmer, wenn man sein Kind verloren hat, und ein Geschwister, die gerade ihren Bruder verloren hat, das aber mindestens genauso schlimm empfindet.
Das heißt, wir machen sehr differenzierte Angebote – Gruppen für Mütter und Väter, die ihre Kinder verloren haben, Gruppen für Geschwister, Kinder von Opfern, Gruppen für Freunde und andere Angehörige.
Sie sprachen jetzt davon, eine ganze Stadt ist in Belastung oder im Ausnahmezustand. Das ist in der Tat so, weil natürlich viele Menschen, die in der Stadt etwas erlebt haben, auch eben wieder sehr viele anderen kennen, die im nahen Umfeld sind, und man ist, also selbst in so einer großen Stadt wie München, ist das nachher so, dass fast jeder kennt jemanden, der direkt etwas erlebt hat. Dann ist das natürlich Gesprächsthema immer in den Tagen, Wochen und Monaten nach einem solchen Ereignis, und dadurch befindet sich in der Tat so eine Stadt im Ausnahmezustand.
Das kann sich sehr hochschaukeln, und man muss hier auch lenkend eingreifen, dass eben nicht nur die Emotionen gegenseitig hochgekocht werden, sondern dass man diese Gemeinschaft dafür nutzt, auch sich gegenseitig zu stützen. Das ist das große Ziel, was wir bei solchen Ereignissen verfolgen.
Billerbeck: Der Traumatherapeut Georg Pieper war das, wie man Angehörigen, Opfern und Zeugen helfen kann, nach einem Anschlag wie dem zum Beispiel in München. Ich danke Ihnen!
Pieper: Danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.