Medea reloaded: Die Barbaren sind wir

Von Ulrich Fischer · 14.01.2009
Es ist eine besonders kulturpessimistische Medea, die Jorinde Dröse in Hamburg auf die Bühne bringt. In "Mamma Medea" ist sie nicht edle Rächerin, die wider Willen ihre Kinder opfert, um ihren Rang und ihr Recht zu verteidigen, sondern mordet zusammen mit Jason aus Verantwortungslosigkeit, ja gar Überdruss.
Tom Lanoyes "Mamma Medea" fußt auf der "Medea" von Euripides, aber sie unterscheidet sich auch stark. Im ersten der beiden Akte berichtet Lanoye ausführlich die Vorgeschichte. Jason, Medeas späterer Gatte, ist mit seinen Argonauten auf Raubzug. Er will das Goldene Vließ in seinen Besitz bringen.

Das Fell eines sagenhaften Widders gehört Medeas Vater. Dennoch hilft Medea Jason. Sie hat sich sterblich in ihn verliebt und beraubt nicht nur den Vater, sondern hilft, den Bruder, der sie, Jason und die Argonauten verfolgt, zu töten. Wegen dieser Verbrechen wird sie nie wieder nach Haus zurückkehren können. Jason hat ihr im Gegenzug die Ehe versprochen und ewige, unverbrüchliche Treue.

Der zweite Akt deckt sich weitgehend mit der euripideischen Fassung. Jason bricht sein Wort, er wirbt um eine junge Prinzessin. Medea ermordet erst Jasons Braut, dann die beiden Kinder, die sie mit Jason hat, um sich an ihrem ungetreuen Mann zu rächen. Anders als bei Euripides bringt bei Lanoye nicht Medea beide Kinder um, sondern nur eines, das andere der Vater, Jason.

Jorinde Dröse unterstreicht die kulturpessimistische Deutung Lanoyes. Das Ensemble präpariert heraus, wie stark sich die Niveaus der Dialoge unterscheiden. Lanoye hat sowohl Übersetzungen der alten, edlen griechischen Verse übernommen, als auch andere Fassungen berücksichtigt wie die von Corneille, Grillparzer und Anouilh - und selbst Dialogteile hinzu geschrieben, im umgangssprachlichen Jargon unserer Tage.

Der Unterschied zwischen Vers und Alltagsdialog ist enorm, wie der von feierlichem Spiel auf hohem Kothurn und Dahergequatsche in Turnschuhen. Auf der Bühne des Thalia in der Gaußstraße, der Werkstattbühne des Thalia, gibt es also keinen Fortschritt seit der Zeit von Euripides bis heute, sondern Rückschritt. Die Menschen werden immer rücksichtsloser.

Am Ende steht nicht eine edle Rächerin, die wider Willen ihre Kinder opfert, um ihren Rang und ihr Recht zu verteidigen, sondern ein Elternpaar, das die Kinder aus Überdruss, zumindest aus Verantwortungslosigkeit, ermordet. Medea und Jason greifen übrigens zur Pistole.

Das Drama ist in der Gegenwart angekommen - bei Lanoye umspannt es weit über 2000 Jahre. Unsere Sphäre erscheint bei Lanoye wie in der Inszenierung von Jorinde Dröse als wesentlich barbarischer als die Epoche, die Euripides beschrieb.

Leila Abdullah spielt im ersten Akt eine Prinzessin, ein Mädchen aus den allerersten Kreisen, das unter ihrer strengen guten Erziehung leidet, eine Aristokratin. Kostümbildnerin Bettina Schürmann hat für sie ein schwarzes Kostüm entworfen, wie es eine konservative griechische Dame bei einem Begräbnis tragen könnte.

Im zweiten Akt, weit fort von zu Haus, in der Fremde, trägt Medea einen Bademantel über dem Unterrock. Das früher zu einem wundervollen Zopf geflochtene Haar hängt ungepflegt wirr um die Schläfen. Medea lässt sich nicht nur gehen, wir sehen eine Frau, die ihren Status verloren hat. Jetzt wohnt sie nicht mehr im Palast, sondern in einem Wohnwagen (Bühne: Anne Ehrlich).

Gegenüber der Prinzessin spielt Alexander Simon Jason als Mann aus der Mittelschicht - ein Zeitgenosse von heute. Ihm fehlt Tiefe, Leidenschaft. Er ist pragmatisch, opfert alles seinem gesellschaftlichen Aufstieg. Wenn man da schon mal sein Wort bricht, mein Gott, das tun alle. Medea soll sich nicht so haben ….

Alle Figuren werden nachvollziehbar gespielt, Leute, wie sie auch im Publikum sitzen könnten. Jorinde Dröse und ihrem Ensemble ist eine Inszenierung aus einem Guss gelungen. Nur bei den Exaltationen fehlt es an Handwerk.

Wenn die Emotionen die Figuren übermannen, steigern die Schauspieler das Sprechtempo und forcieren die Lautstärke, wobei sie die Artikulation vernachlässigen. Das führt zu Verständnisschwierigkeiten - und könnte durch größere Sorgfalt vermieden werden.

"Mamma Medea"
Tom Lanoye
Inszenierung: Jorinde Dröse
Thalia in der Gaußstraße, Hamburg