Mechanismen des Diskurses

Von Tatsachenbehauptung und Meinungsbildung

Fake News-Schriftzug auf einem Smartphone
Fake News-Schriftzug auf einem Smartphone © imago
Von Lars S. Otto · 03.03.2017
Trotz "alternativer" oder "falscher" Fakten: Warum wir uns mit den Meinungen und Tatsachenbehauptungen anderer auseinandersetzen müssen. Ein Plädoyer für einen offenen Diskurs von Lars S. Otto.
Wir erleben gerade, wie von verschiedenen Seiten aus versucht wird, die Regeln zu ändern, nach denen wir unsere Meinungen bilden wollen. Es ist beunruhigend, dass immer mehr Menschen die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden kategorisch verweigern, an einem gemeinsamen Diskurs also gar nicht mehr interessiert sind, sondern die Sprachlosigkeit zum Paradigma erheben wollen.
Grund genug, sich mit den Mechanismen des Diskurses zu befassen – eine große Rolle spielen dabei die Behauptungen von Tatsachen im Rahmen der Meinungsbildung.

Die argumentative Kraft der Tatsachenbehauptung

Tatsachenbehauptungen haben große argumentative Kraft: Tatsachen scheinen wahr oder unwahr; über sie kann man scheinbar – anders als über Meinungen – nicht streiten. Wer behauptet, etwas sei eine Tatsache, will diesen Aspekt dem Diskurs gerade entziehen. Der Macht, zu definieren was eine Tatsache "ist", kommt damit große Bedeutung zu. So entschied beispielsweise kürzlich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, Bayerns oberstes Verwaltungsgericht:
"Ein Bürgerbegehren ist unzulässig, wenn in seiner Begründung in entscheidungsrelevanter Weise unzutreffende Tatsachen behauptet werden […]."
Dabei soll nun keineswegs die These aufgestellt werden, jede beliebige Tatsachenbehauptung müsse aus falsch verstandenen egalitär-demokratischen Gründen gleichermaßen anerkannt werden, ganz im Gegenteil. Aber: Tatsachenbehauptungen sind viel komplizierter als es den Anschein hat. Es wäre naiv anzunehmen, dass Tatsachen einfach "sind, wie sie sind" und nur ein Lügner sie bestreiten könnte.
Denn erstens haben wir es nicht mit Tatsachen an sich zu tun, sondern mit Aussagen über Tatsachen. Entsprechend führt beispielsweise der Philosoph Jürgen Habermas aus, dass Tatsachenbehauptungen der Versuch sind, das Gegenüber dazu zu bringen, die Aussage als wahr anzuerkennen. Insoweit unterscheiden sich Tatsachenbehauptungen nicht von Meinungen.

Tatsachen werden erst im Vorgang des Erkennens geschaffen

Zweitens "sind" Tatsachen nicht einfach da. Sie werden vielmehr erst im Vorgang des Erkennens geschaffen. Tatsachenbehauptungen hängen vom jeweiligen Vorverständnis des Einzelnen ab, von seinen Begriffsverwendungen, seiner Weltsicht, seinem Erkenntnisinteresse.
Ein Beispiel: Ein Richter findet die Tatsachen, die er zu bewerten hat, also den Sachverhalt, nicht einfach so vor. Der Sachverhalt ist vielmehr das Ergebnis der Beweisaufnahme, also des Versuchs des Richters, Tatsachen für sich selbst zu erkennen, um sie zur Grundlage seines Urteils machen zu können. Dazu hört er die Wirklichkeitsbeschreibungen von Zeugen an, befragt gutachterlich tätige Sachverständige oder verlässt sich auf seine eigene sinnliche Wahrnehmung im Rahmen einer sogenannten Inaugenscheinnahme.
Der Richter weiß dabei, welche sozialen Abläufe für seine Rechtsentscheidung relevant sind, er weiß durch seine juristische Vorprägung, wonach er suchen muss – und mit dieser Brille, diesem spezifischen Erkenntnisinteresse konstruiert er den Sachverhalt.
Juristen nennen das das "Hin- und Herwandern des Blickes" zwischen den Normen, deren Vorliegen sie prüfen, und dem Sachverhalt, den sie mit Blick auf diese Normen erst erschaffen. Diese Konstruktion von Wirklichkeit ist jedoch nichts spezifisch Juristisches: Tatsachenerkenntnis ist stets viel voraussetzungsvoller, als wir glauben mögen.

Den Diskurs offen halten

Mit diesen Einsichten kommen wir nicht umhin, für Tatsachenbehauptungen ebenso streiten zu müssen wie für Meinungen. Jeder muss anerkennen, dass andere die eigenen Vorverständnisse nicht teilen und dass sich die eigenen Wahrheiten in der Debatte bewähren müssen. Wer das tut, kann die Kritik der anderen an den eigenen Tatsachenkonstrukten aufnehmen – und darf umgekehrt verlangen, dass auch die anderen ihre Annahmen hinterfragen.
Debatten auf diese Art zu führen und sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die gänzlich andere Vorverständnisse haben, ist wahrlich kein Vergnügen. Es ist aber der Preis für die Offenhaltung des Diskurses, für die Chance einer gemeinsamen Auseinandersetzung. Diese Anstrengung ist notwendig, denn es gibt nur zwei Formen gesellschaftlicher Konfliktlösung: Diskurs – und Gewalt.

Lars S. Otto, LLM (LSE) hat in Berlin, Århus und London Rechtswissenschaft studiert. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. In seinen Forschungen und Publikationen befasst er sich insbesondere mit Verfassungsrecht und politischer Philosophie.


Der Rechtswissenschaftler Lars Otto
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