Mauerfall global

Nicht-deutsche Facetten des Jahres 1989

2007: Der einstige Co-Vorsitzende der polnischen Arbeitergewerkschaft Solidarnosc, Lech Walesa. Walesa war auch polnischer Ministerpräsident.
Der einstige Co-Vorsitzende der polnischen Arbeitergewerkschaft Solidarnosc, Lech Walesa © afp/Philippe Huguen
Von Marko Martin · 07.11.2014
Nein, wir haben das nicht allein geschafft! Zum 25. Jahrestag der Friedlichen Revolution in der DDR erinnert der Schriftsteller Marko Martin daran, dass nicht nur Deutsche, sondern auch Amerikaner, Polen oder Tschechen zum "Epochenwechsel" in Europa beigetragen haben.
Es ist schon verblüffend: Da wird zum Jahr 1989 noch einmal jedes inzwischen sattsam bekannte Detail kommentiert und durchgehechelt - doch die Perspektive bleibt weiterhin rein deutsch und somit reduziert. Auch durch plappernde Wiederholungs-Routine vermag man große Momente zu entwerten.
So könnte man konzedieren, dass vor Michail Gorbatschows realistischer Rückzugspolitik Ronald Reagans aggressives und damals hochumstrittenes Rüstungsprogramm stand, das die Sowjets nachhaltig in die Bredouille brachte - übrigens weniger militärisch, denn ökonomisch.
Und auch nach dem Mauerfall war der unterstützende Beitrag der Washingtoner Administration auf dem Wege zur deutschen Einheit kein geringer, während in London und Paris noch gemauert wurde. Weshalb aber gab es damals keinen lautstarken Einspruch der polnischen Nachbarn, welche doch historisch allen Grund gehabt hätten, ein wiedererstarkendes Deutschland gehörig zu fürchten?
Auch in diesem Fall zeigen uns die Fernsehbilder aus der Archiv-Konserve eher das Falsche: Kanzler Kohl im "Mantel der Geschichte", jovial-begütigend den schmal-schultrigen polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki umarmend.
Ohne Polen hätte es keinen Epochenwechsel gegeben
Doch war dieser kein Geringerer als der erste nicht-kommunistische Premier in der Geschichte des Ostblocks, ein integrer und mutiger Solidarnosc-Mann, der bereits Anfang der achtziger Jahre zusammen mit Lech Walesa den in Danzig streikenden Werftarbeitern beigestanden hatte.
Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Ohne den damaligen Todesmut der Polen wäre es 1989 nicht zum Epochenwechsel gekommen, hätte sich das sklerotische Regime noch länger am Leben gehalten.
Dass die neue, nichtkommunistische Politiker-Elite gegenüber einem vereinten Deutschland so wohlwollend war, ist Jerzy Giedroyc zu danken. In Polen verehrt, blieb der wohl einflussreichste Nachkriegspublizist in Deutschland nahezu unbekannt. Nicht nur, dass er im französischen Exil die Zeitschrift "Kultura" herausgab, in der verbotene Dichter und Dissidenten zu Wort kamen. Er entwarf bereits in den sechziger Jahren jenes praktikable Zukunftsprogramm, das inzwischen Früchte trägt.
Allein die Existenz einer trotz allem preußisch geprägten DDR, so Giedroyc, habe die Anwesenheit der Sowjetarmee an Polens Westgrenze legitimiert. Bei einer deutschen Wiedervereinigung aber würde diese Drohpräsenz hinfällig. Und er setzte sich früh dafür ein, die mittlerweile bestehenden Grenzen zwischen Polen, Litauen und der Ukraine anzuerkennen und auf beiden Seiten robuste zivilgesellschaftliche Strukturen zu schaffen.
Václav Havels liberales Erbe wirkt nach
Es ist somit kein Zufall, dass im gegenwärtigen Ukraine-Konflikt sich nirgendwo polnischer Revanchismus meldet, der nun etwa Lwiw alias Lemberg zurückhaben möchte oder auf litauisches Staatsgebiet spekulieren würde.
Unmöglich, in diesem Zusammenhang Václav Havel zu übergehen, dessen liberales Erbe nachwirkt, wenn heute die Tschechische Republik trotz aller Korruptionsaffären weder den dubios postkommunistischen rumänischen Weg geht, noch die neorechte ungarische Richtung einschlägt.
Von ihm, vom Mut und Witz anderer antikommunistischer Demokraten lassen sich Prager Studenten inspirieren, wenn sie gegen gegenwärtiges Unrecht auf die Straße gehen oder sich mit ihren rebellierenden Hongkonger Kommilitonen solidarisch zeigen. In China nämlich assoziiert man mit 1989 eine ganz andere Geschichte: die massenmörderische Niederschlagung der Proteste auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens.
"1989" ist also mehr als das, was die erwartbaren Statements sattsam bekannter Veteranen ausdrücken. Es steht für eine Aufbruchs- und Freiheitsgeschichte, deren erstes Kapitel weit aus früher geschrieben wurde und deren letztes Kapitel noch längst nicht beendet ist.
Marko Martin, Berliner Schriftsteller und Publizist, verließ als Kriegsdienstverweigerer im Mai 1989 die DDR. Soeben erschien sein neues Buch "Treffpunkt ´89. Von der Gegenwart einer Epochenzäsur" (Wehrhahn Verlag Hannover)
Marko Martin
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