Matthias Wittekindt: "Vor Gericht. Ein alter Fall von Kriminaldirektor a.D. Manz"
Kampa Verlag, Zürich 2021
320 Seiten, 19,90 Euro
Zeuge in eigener Sache
03:32 Minuten
Matthias Wittekindt schickt in "Vor Gericht" einen pensionierten Ermittler auf eine Reise in die Vergangenheit. Der Autor kartiert in seinem Kriminalroman ganz nebenbei die Risse und Verwerfungen im Nachwendedeutschland.
Eigentlich hat sich Stephan Manz, Kriminaldirektor a. D., ganz gut im Ruhestand eingerichtet. Er lebt mit seiner Ehefrau in einem Haus in der Nähe von Dresden und hat im örtlichen Ruderclub eine Gruppe von älteren Herren als Freunde gefunden. Dann bekommt er eine Vorladung: Er soll in einem Prozess als Zeuge zu einem Fall aussagen. Vor 28 Jahren hat er in dem Fall ermittelt, konnte ihn aber nicht zu Ende bringen, weil er von Berlin nach Dresden versetzt wurde.
Erschütterte Erinnerungen
Also versucht sich Manz in Matthias Wittekindts "Vor Gericht" so genau wie möglich zu erinnern, an diese Monate Ende 1990, Anfang 1991. Er erinnert sich an die Ermordete, deren Söhne sich schnell in Widersprüche verwickelt hatten. An seine Kollegin, die kurz darauf starb. Und an die Euphorie seiner Ehefrau, die endlich wieder ihre Familie in Dresden besuchen konnte. Doch all diese Erinnerungen werden erschüttert von der Anklage gegen einen Mann, den Manz damals für unschuldig hielt. Wenn er sich beruflich so geirrt hat – was hat er dann im Privaten übersehen?
Matthias Wittekindt ist ein präziser Beobachter, der von feinsten Erschütterungen unaufgeregt erzählt. Dadurch eröffnet sich Raum für allerhand Subtexte – zum Beispiel über Vorurteile: gegenüber den Türken oder Ungarn; gegenüber einem Kollegen aus dem Osten, der neu zur Polizei in Westberlin kommt; oder gegen den Wessi Manz, der den Polizisten in Dresden vor die Nase gesetzt wird. Und es gibt die kurzen Ausbrüche von Manz' Ruderkumpel, die auf zukünftiges Wutbürgertum hindeuten, aber auch die Hilflosigkeit seiner Freunde, die nichts dagegen sagen.
Entscheidende Kleinigkeiten
In diesem Roman wird viel verhandelt, ohne dass es explizit erzählt werden muss. Dazu kommen wunderbare Dialoge, die alltäglich wirken, es aber aufgrund ihrer Verdichtung gar nicht sind. Durch sie wird die verlässliche Vertrautheit mit einem alten Kollegen deutlich – oder auch die intime Kenntnis zweier Eheleute, die kleine Spitzen nicht nur gekonnt setzen, sondern auch raffiniert ignorieren: Es sind die Kleinigkeiten, die in diesem Roman entscheidend sind.