Matthias Greffrath über Sigmar Gabriel

"Ein schwankendes Rohr mit großen rhetorischen Fähigkeiten"

SPD-Parteichef Sigmar Gabriel auf dem Parteitag in Berlin am 10.12.2015.
SPD-Parteichef Sigmar Gabriel auf dem Parteitag in Berlin am 10.12.2015. © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Matthias Greffrath im Gespräch mit Nana Brink · 11.12.2015
Mit Spannung wird die Wahl der SPD-Spitze am Freitag erwartet. Der Publizist Matthias Greffrath geht davon aus, dass der alte Parteichef auch der neue sein wird. "Er wird es reißen", sagt er. "Aber die nächste Kanzlerin heißt Merkel."
Keine Überraschungen bei der Wiederwahl Sigmar Gabriels zum SPD-Parteivorsitzenden erwartet der Publizist Matthias Greffrath. Gabriel werde es "reißen" und auch ein Ergebnis von über 80 Prozent bei seiner Wiederwahl zum Parteivorsitzenden erzielen, sagt er."Aber die nächste Kanzlerin wird Merkel heißen, nach allem, was wir heute so überblicken. Und dann wird es wieder eine Große Koalition geben."
Kraftlose Sozialdemokraten, die sich am liebsten in eine Große Koalition flüchten
Es sei grundsätzlich das Problem der nordeuropäischen Sozialdemokraten, dass sie sich eigentlich lieber in Große Koalitionen flüchteten, als "das große Projekt einer wirklichen Modernisierung Europas" anzufassen, kritisiert der Publizist. Dabei brauche man jetzt eine Sozialdemokratie, "die die Zukunftsthemen nicht nur benennt, sondern die Kraft ausstrahlt, dass sie da auch grundsätzlich was in Bewegung setzen kann". Es sei allerdings fraglich, ob jemand, "der vor ein paar Wochen oder Monaten noch die Frage gestellt hat, ob die Sozialdemokratie eigentlich überhaupt einen eigenen Kanzlerkandidaten stellen soll bei der nächsten Bundestagswahl", das ausstrahlen könne.
Auch habe Gabriel in der Griechenland-Krise nicht die Kraft gefunden, die Schuldenpolitik der EU grundsätzlich in Frage zu stellen, so Greffrath weiter. Und in der Flüchtlingsfrage habe er lange geschwankt und sich dann doch irgendwann hinter die Politik der Kanzlerin gestellt. "Er ist ein schwankendes Rohr mit großen rhetorischen Fähigkeiten."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: In knapp zwei Stunden wird Sigmar Gabriel seine entscheidende Rede auf dem SPD-Parteitag halten. Dass er auch nach dieser Rede wieder zum Parteichef gewählt wird, daran gibt es ja keinen Zweifel, das Ergebnis allerdings wird entscheidend sein. 83,6 Prozent ist die Messlatte, das war auf dem letzten Parteitag 2013 in Leipzig, das war nach der verlorenen Bundestagswahl im selben Jahr, als die Partei ihr zweitschlechtestes Ergebnis einfuhr und seitdem bei 25 Prozent stagniert. Mathias Greffrath, Schriftsteller und Journalist, schreibt für die "ZEIT" oder auch die "taz", die Zukunft der Arbeit und Globalisierung, das sind seine großen Themen. Guten Morgen, Herr Greffrath!
Mathias Greffrath: Guten Morgen, Frau Brink!
An die großen alten Werte und Forderungen erinnern
Brink: Welche drei Dinge müsste Sigmar Gabriel gleich sagen, um nicht nur die Genossen, sondern auch die Wähler draußen zu überzeugen?
Greffrath: Ja, das ist natürlich schwierig, denn es gibt ja mindestens zwölf Dinge, die er sagen könnte. Aber ich erinnere mich daran, dass gestern Gerhard Schröder die großen alten Männer der SPD gefeiert hat und an sie erinnert hat, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Egon Bahr. Vielleicht müsste Gabriel einfach nur sagen: Ich erinnere jetzt mal an die großen alten Werte und an die großen alten Forderungen, die wir haben und die wir hatten und von denen keiner mehr glaubt, dass wir sie noch verwirklichen können.
Ich sage mal drei Sachen einfach nur: eine Arbeitsverfassung zu entwickeln und umzubauen fürs Zeitalter der Globalisierung, es wird jetzt viel über die Arbeit 4.0 geredet, über die neue drohende Automatisierung, da muss man sich doch mal überlegen, ob man nicht die Sozialsysteme und auch die Arbeitsverfassung grundsätzlich umbauen müsste, um auch unter den Bedingungen prekärer Arbeit und weniger werdender Arbeit – denn sie wird ja nach wie vor weniger, auch wenn die Arbeitsplätze mehr geworden sind, aber die Arbeit ist ja nicht mehr geworden –, ob man da nicht grundsätzlich was machen kann. Also, ob man die Sozialsysteme zum Beispiel nicht von den Löhnen abkoppeln muss.
Im Windschatten der CDU
Das zweite große, alte Thema ist die Steuergerechtigkeit, die SPD redet immer sehr viel von Erbschaftssteuer, von Vermögenssteuer, aber niemand traut ihr im Grunde zu – in dieser Koalition schon gar nicht –, dass sie das durchsetzen kann. Das Dritte wäre das Gesundheitssystem, wo auch das Thema Bürgerversicherung seit 15 Jahren sozusagen in der Rhetorik versandet.
Man könnte noch einiges mehr sagen, ganz großes Thema der SPD natürlich in einer Zeit, wo wir im Grunde zurückgefallen sind, was die Bildungschancen der unteren Schichten angeht, auf die späten 70er- und die frühen 80er-Jahre, wo es diesen großen Schub gab, das sind alles Themen, denke ich, wo es in der Bevölkerung eine strukturelle Mehrheit für doch radikale und grundsätzliche Veränderung gibt, aber die SPD im Windschatten der anderen großen sozialdemokratischen Partei, die sich CDU nennt, nicht die Kraft hat, für solche grundsätzlichen Erneuerungen sich einzusetzen.
Ich meine, vor 20 Jahren ist das Wort aufgekommen vom Ende des sozialdemokratischen Zeitalters, das hat damals der Herr Dahrendorf gesagt und der meinte damit, sozialdemokratisches Gedankengut ist im Grunde allgemein geworden, Allgemeingut geworden. Das sieht man ja auch an der CDU ein wenig. Was wir jetzt bräuchten, wäre die Sozialdemokratie als Zukunftspartei, die die Zukunftsthemen nicht nur benennt, sondern die Kraft ausstrahlt, dass sie da auch grundsätzlich was in Bewegung setzen kann.
"Weit rechts" in der Griechenlandkrise
Brink: Da würde ich gerne einhaken: Glauben Sie denn oder trauen Sie ihm das zu?
Greffrath: Na ja, die Frage ist, ob jemand, der vor ein paar Wochen oder vor ein paar Monaten noch die Frage gestellt hat, ob die Sozialdemokratie eigentlich überhaupt einen eigenen Kanzlerkandidaten stellen soll bei der nächsten Bundestagswahl, ob der das ausstrahlen kann.
Und wenn man jetzt anguckt, was hat Gabriel gemacht in Bezug auf die Griechenland-Krise und was hat er gemacht in Bezug auf die Flüchtlingskrise: Bei Griechenland hat er nicht die Kraft gefunden, sozusagen die Schuldenpolitik der EU grundsätzlich infrage zu stellen, da war die SPD weit rechts von hoch kapitalistischen Unternehmungen wie Boston Consulting Group, Unternehmensberatung, die für eine europäische Vermögensabgabe plädiert haben. Über so etwas wird in der, sagen wir mal, aufgeklärten Bevölkerung mehr diskutiert als in der SPD.
Und in der Flüchtlingsfrage hat er sich sozusagen schwankend, schwankend, schwankend dann doch irgendwann hinter die Politik der Kanzlerin gestellt. Also, er ist ein schwankendes Rohr mit großen rhetorischen Fähigkeiten.
Das große Thema wäre eine "Wiedervereinigung" von SPD, Linken und Grünen
Brink: Er muss ja auch die Herzen der Genossen ... Das darf man ja nicht unterschätzen, es kommt ja nicht nur auf Inhalte an, sondern auch, dass er sie einfach packt. Aber ich würde trotzdem noch mal gerne bei den Inhalten bleiben: Es gibt ja eine große Konkurrenz auch, die die Sozialdemokratie hat, nämlich der Erfolg der Linken. Wir sehen das ja bei vielen populistischen Linken, europakritischen Parteien, Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, neue Linksbündnisse in Portugal. Muss man mit denen zusammenarbeiten? Das hat ja zum Beispiel so jemand wie Gesine Schwan gefordert!
Greffrath: Sie geben mir ein großes Stichwort! Denn ich meine, ...
Brink: Nichts lieber als das!
Greffrath: ... die Sozialdemokratie stagniert ja, die Sozialdemokratie als geistige politische Bewegung stagniert ja, weil sie zwei Abspaltungen hinter sich hat. Helmut Schmidt hat das Ökologiethema nicht entdeckt, daraus entstanden die Grünen, und das Entstehen einer neuen Unterschicht ist auch nicht rechtzeitig aufgenommen worden von der Sozialdemokratie, daraus ist dann die Linkspartei geworden, die immer stärker wird. Und die Frage ist ... Oder nicht die Frage ist, ich glaube nicht, dass Gabriel die Kraft hat, das wirklich große Thema zu setzen, nämlich: Wie schaffen wir eine Wiedervereinigung dieser drei Parteien, die, sagen wir mal, ich will nicht sagen: der Linken, sondern die links von der CDU sind?
Eine Partei aus Karteileichen und "ämterorientierte Aktiven"
Und in Bezug auf Südeuropa kann man nur sagen, von da geht ein Erneuerungsimpuls aus, das sind ja alles keine kommunistischen Revolutionsparteien, sondern das sind im Grunde Parteien, die gute alte sozialdemokratische Werte verteidigen in einem Europa, das als Ganzes, sagen wir mal so, wachstumsverliebt ist, dass sie nach unten eigentlich nicht mehr so richtig gucken, weil sie denken, wenn das Wachstum wiederkommt, dann wird alles andere auch wiederkommen. Ich glaube, das ist eine Fehleinschätzung. Also, man sieht es ja auch an den Talkshows, wo Frau Wagenknecht mit Forderungen von Ludwig Erhard eigentlich immer eine ziemlich gute Presse kriegt. Und es gibt in dieser Partei, denke ich, immer noch eine ganz starke ... Ja, ich würde fast sagen, die Hälfte der Partei möchte eigentlich diese Wiedervereinigung haben.
Das Problem ist, weil Sie sagen, wie gewinnt er die Genossen ... Ich meine, so viele Genossen gibt es ja gar nicht mehr. Und es gibt, glaube ich, fünf Prozent oder knapp fünf Prozent unter 30-Jährige in dieser Partei. Die Hälfte sind Karteileichen nach Aussagen der Sozialwissenschaft und 22 Prozent oder 20 Prozent sind die Ämter-orientierten Aktiven. Und ich habe manchmal das Gefühl, diese Partei besteht fast nur noch aus Ämter-orientierten Aktiven, die sich dann auf solchen Parteitagen natürlich hinter den Vorsitzenden stellen, weil sie meinen, Geschlossenheit und nicht heftige Diskussion, wie wir das früher mal kannten, wäre das, was die Sozialdemokratie in der Bevölkerung populär macht.
Flucht in die Große Koalition
Brink: Also, er wird es nicht reißen? Ganz kurz!
Greffrath: Er wird es natürlich reißen, er wird auch irgendwie über 80 Prozent landen. Aber ich meine, die nächste Kanzlerin wird Merkel heißen nach allem, was wir heute so überblicken. Und dann wird es wieder eine Große Koalition geben und das ist ja auch das Problem der nordeuropäischen Sozialdemokraten, dass sie sich eigentlich lieber in große Koalitionen flüchten, als dass sie das große Projekt einer wirklichen Modernisierung Europas anfassen möchten. Ich meine, man könnte noch über viele Themen reden in dem Zusammenhang.
Brink: Herzlichen Dank, Mathias Greffrath, für diese Einschätzungen!
Greffrath: Ich danke Ihnen, schönen Tag noch!
Brink: Das wünschen wir Ihnen auch! Und in zwei Stunden wissen wir dann Genaueres, dann spricht nämlich Sigmar Gabriel auf dem SPD-Parteitag.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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