Mathematiker Norbert Herrmann

"Mathematik hat mit Zahlen wenig zu tun"

33:59 Minuten
Ein Mann mit kurzen grauen Haaren steht in einem Garten.
Seit Jahren kämpft der Mathematiker Norbert Herrmann gegen die Vorurteile, die mit seiner Wissenschaft fest verankert scheinen. © privat
Moderation: Katrin Heise · 31.08.2021
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Mathematik ist überall und eigentlich eine Geisteswissenschaft, sagt Norbert Herrmann voller Begeisterung. Ebenso begeistert ist der Mathematiker von der Musik: Er hat sogar selbst eine Oper inszeniert und den Tenor gesungen.
Was haben die Einparkhilfe im Auto und das aus Strichen gezeichnete "Haus vom Nikolaus" gemeinsam? In beiden steckt reichlich Mathematik, sagt Norbert Herrmann. Und der muss es wissen, schließlich hat sich der Mathematiker ausführlich mit der automatischen Einparkhilfe und dem Zeichenspiel beschäftigt.

Für die Sache mit dem Einparken entwickelte Herrmann eine eigene Formel, "die für alle Fahrzeuge anwendbar ist. Mathematiker machen immer etwas für alle. Jedes Fahrzeug muss die Chance haben, seinen besten Weg dadurch auszurechnen", erzählt der Wissenschaftler, der an der Leibniz Universität Hannover über drei Jahrzehnte Angewandte Mathematik lehrte.

Mit der Graphentheorie den besten Weg finden

Und auch im "Haus vom Nikolaus" finde sich viel aus seinem Fachgebiet. Wie man es schafft, acht Striche zu malen, keinen doppelt, ohne den Stift dabei abzusetzen, das könne man mit der Graphentheorie erklären, sagt Norbert Herrmann.
"Eine Linie hat zwei Endpunkte. Zwei Linien haben vier Endpunkte. Sechs Linien haben also zwölf Endpunkte. Jeder Graf hat eine grade Anzahl von Endpunkten. Wenn man das weiß, ist der Rest trivial."
Das sei eine Spielerei, aber mit der Graphentheorie könne man auch "jeden Morgen den Postboten mitteilen, wo sie langfahren müssen, um den optimalen Weg zu kriegen. Mithilfe der Graphentheorie funktioniert das."

"Mathematik kann man lernen"

Von seinem Fach, das kann man nicht überhören, ist der 78-Jährige noch immer begeistert. Anders als vielfach behauptet, könne man Mathematik lernen, sie müsse nur gut erklärt werden. Herrmann erinnert in diesem Zusammenhang an einen Satz von Albert Einstein: "Wenn ich meine Sache einem Fünfjährigen nicht erklären kann, dann habe ich es nicht verstanden."
Seit Jahren kämpft der Mathematiker gegen die Vorurteile, die mit seiner Wissenschaft fest verankert scheinen. Er verfasste zahlreiche Bücher, darunter das mehrfach aufgelegte: "Mathematik ist überall". Herrmann hält Vorträge, engagiert sich Mathebotschafter der Stiftung Rechnen.

Entwickeln, was andere rechnen müssen

Mit Zahlen und Rechnen würde man sich in seinem Fach eigentlich nur selten befassen. Von den 60 Hauptgebieten der Mathematik beschäftige sich nur eines damit. "Sonst hat Mathematik mit Zahlen gar nichts zu tun." Rechnen müssten "die Anwender der Mathematik, die Ingenieure, die Physiker, die Naturwissenschaftler, die Mediziner. Alle brauchen Mathematik. Die müssen rechnen. Wir entwickeln, was sie rechnen müssen."
Was Norbert Herrmann ganz besonders stört, das sind Aussagen über Mathematik und Frauen. Die, so der Wissenschaftler, halten sich ebenfalls hartnäckig. Herrmann erinnert sich an einen Kollegen.
"Der hat behauptet, Frauen hätten kein Gehirn für Mathematik. Das hat der wirklich behauptet. Wie man so dumm sein kann? Das verstehe ich nicht. Und es ist nicht wahr. Ich habe viele Studierende unterrichtet, vor allem Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet. Das waren im Endeffekt mehr Frauen als Männer. Und die Frauen waren gut, die haben hervorragende Abschlüsse gemacht."

"Die Mathematik ist sehr kreativ"

Obwohl er einen "schlechten Lehrer hatte", begeisterte sich Norbert Herrmann schon früh für Mathematik. Doch auch die Musik ist ihm wichtig, der Vater war Kantor.
Der kleine Norbert geht früh in den Chor, später singt er viele Jahre im Komparsenchor der Oper in Hannover. An seinem Mathe-Institut inszenierten die Mitarbeiter sogar eine komplette Oper.
Für Herrmann haben auch die Musik und die Mathematik viele Gemeinsamkeiten.
"Die Mathematik ist sehr kreativ, Musik auch. Ich glaube, das läuft in dieselbe Richtung. Die Mathematik ist ja nicht festgelegt. Und wenn ich singe, muss ich innerlich drei Töne voraushören. Ich muss also ständig geistig arbeiten. Und das läuft, glaube ich, in dieselbe Richtung."
(ful)
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