Maßstäbe für "korrekt" und "unmoralisch"

15.06.2011
Der Moralphilosoph Christian Neuhäuser ist davon überzeugt, dass Unternehmen zum moralischen Handeln fähig seien und Pflichten unterlägen, deren Verletzung sie rechtfertigen oder entschuldigen müssten. Sein Buch ist unerschrocken, aber keine Herausforderung für die Logik der Wirtschaft.
Ethik ist eine individuelle Sache: Die Frage, was man tun soll und was nicht, richtet sich an den einzelnen Menschen. Nur er kann handeln, kann einen freien Willen haben, kann sich entscheiden, etwas zu tun oder zu lassen, aus ethischen Gründen oder aus unethischen. So zumindest sind wir seit Jahrhunderten gewohnt, die Welt zu betrachten.

Doch in Zeiten von Klimawandel und Globalisierung drängt sich immer mehr die Frage auf, ob das noch genügt: Was, wenn für die wirklich schlimmen Dinge, die passieren, nicht mehr Einzelne verantwortlich gemacht werden können? Heißt das, dass überhaupt niemand schuld ist? Dass man von niemandem erwarten kann, sich darum zu kümmern und dafür Verantwortung zu übernehmen?

Diese Frage ist der Ausgangspunkt für den Versuch des Bochumer Philosophen Christian Neuhäuser, eine Unternehmensethik zu begründen – eine Untersuchung, ob und wofür und auf welche Weise Unternehmen im Unterschied zu ihren Managern und Aktionären ethisch verantwortlich gemacht werden können für das, was in ihrem Namen geschieht.

Seine Antwort ist ein entschiedenes Ja: Unternehmen sind zum moralischen Handeln fähig und unterliegen Pflichten, deren Verletzung sie rechtfertigen oder entschuldigen müssen. Auf Basis der Menschenwürde entwirft er ein Modell, um das Handeln von Unternehmen nach den Maßstäben von Moral oder Unmoral bewerten zu können. So ergibt sich beispielsweise, dass die Deutsche Bank, als sie 2005 trotz Rekordgewinnen Massenentlassungen ankündigte, am Ende moralisch korrekt gehandelt hat, während sich Crédit Suisse, die in Kinderarbeit genähte Fußbälle als Werbegeschenke verteilen ließ, moralische Vorwürfe gefallen lassen muss.

Neuhäusers Buch ist aus einer Doktorarbeit entstanden. Um so mehr imponiert die Unbekümmertheit seiner Vorgehensweise: Die Frage nach der Begründbarkeit einer Unternehmensethik reißt eine schier unübersehbare Fülle von ökonomischen, soziologischen und politologischen Folgefragen auf, die jede für sich eine eigene Habilitation verdient hätte, Neuhäuser indessen überhaupt nicht zu schrecken scheinen: Wie einer, der auszieht, um das Fürchten zu lernen, mit nichts als seinem moralphilosophischen Handwerkszeug am Gürtel, durchwandert er sein riesiges Forschungsfeld, beantwortet im Vorbeigehen hier die Frage, wie die Automobilindustrie einen klimaneutralen Fahrzeugantrieb entwickeln kann (durch Kooperation), und dort die Frage, wann Massenentlassungen gerechtfertigt sind (wenn sonst eine Übernahme des Unternehmens droht).

Aus dieser Unbekümmertheit resultiert aber auch die große Schwäche des Buchs: Es lässt völlig unbeachtet, dass die Wirtschaft als operativ geschlossenes System für die Sprache der Moral direkt gar nicht empfänglich ist. Ein Menschenwürdeproblem lässt sich in der Funktionslogik der Wirtschaft höchstens als mittelbares wirtschaftliches Problem erkennen und formulieren, etwa als Imageschaden oder als drohender Wegfall eines Absatzmarkts. Das kann man unmoralisch finden, aber auch diesen Einwand wird die Wirtschaft nicht verstehen.

Die Frage, die Neuhäusers Werk stellt, ist hochaktuell – aber er liefert keine Antworten, die auch die Akteure der Wirtschaft herausfordern würden. Sein Buch liest sich wie der Versuch, einem Hydranten nachzuweisen, er sei moralisch verpflichtet, bei einem Brand Wasser auszuspucken. Es ist ein Buch von Moralphilosophen für Moralphilosophen. Viel Resonanz in der Unternehmenswelt wird ihm nicht beschieden sein.

Besprochen von Maximilian Steinbeis

Christian Neuhäuser: Unternehmen als moralische Akteure
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
352 Seiten, 14 Euro
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