Maßschuhe für Perón

Von Dirk Fuhrig |
In Argentinien zeigt sich die Elite trotz allgemeiner Wirtschaftskrise nach wie vor gerne elegant in der Öffentlichkeit. Davon profitiert auch eine kleine Schuhmacherei, die seit fast 100 Jahren ihre Marktnische gefunden hat. Der Vater des heutigen Besitzers der Schuh-Manufaktur Picón lieferte bereits dem einstigen Staatspräsidenten Juan Perón das passende Laufwerk nach Maß - sogar ins Exil.
In San Telmo ist nicht nur der Tango zu Hause. Das historische Stadtviertel mit seinem Trödelmarkt, der jedes Wochenende zwischen frisch renovierten Hausfassaden abgehalten wird, ist eine der Attraktionen für die Besucher der Stadt.
Ein paar Blocks weiter nördlich sind die Straßenmusiker verschwunden, die teuren Antik-Geschäfte mit üppigen, vergoldeten Spiegeln und Kronleuchtern aus dem 19. Jahrhundert im Schaufenster werden abgelöst von Klamottenläden der eher schlichten Sorte.

In der Calle San José sind die Bürgersteige schmal, die Häuser schmucklos, Dennoch strahlen sie noch etwas vom verblichenen Glanz des frühen 20. Jahrhunderts aus. Die hochbeinigen alten Autobusse, typische Verkehrsmittel in Buenos Aires, preschen mit hoher Geschwindigkeit durch und hinterlassen dicke Abgaswolken. Der Eingang zu dem Ladenlokal mit der Hausnummer 573 ist leicht zu übersehen. Viel mehr als ein Hausflur ist es eigentlich gar nicht. Kein Schild, nur eine Glastür, die halb offen steht. In ihr spiegeln sich Lederschuhe.

Hanni: "Das ist der Schuh, der Dir passt..."

Rechts an der Wand ein kleines Regal mit Herrenschuhen, davor zwei Hocker. Dann kommt schon die Theke mit der Kasse. Dahinter noch einmal eine Sitzbank, bevor ein Vorhang den schlauchartigen Verkaufsraum vom Lager abtrennt.

Hanni: "Ihr kommt nachher die abholen.... Wollt Ihr sie haben mit Karton oder so? Karton …"

Man spricht Deutsch in der Calle San José Nummer 573. Ein bisschen zumindest. Kaum hatten wir das Geschäft betreten, war der freundliche junge Verkäufer, der sich später als Ladenbesitzer und Fabrikdirektor vorstellt, ans Telefon geeilt. Wenige Minuten später stand eine ältere Dame vor uns und begrüßte uns auf Deutsch.

"Hanni, von Johanna"

Hanni ist die Mutter des Ladenbesitzers. Sie ist schon fast 60 und hat deutsche Vorfahren. José Picón, ihr Sohn, hat das Geschäft vor einigen Jahren übernommen. Er ist stolz auf die lange Geschichte der Schuhmacherei Picón. Seit 1928 fertigt seine Familie hochwertige Herrenschuhe - von Hand, versteht sich. Ein kompliziertes Geschäft.

José Picón: "Sehr schwierig, ja, es ist sehr schwierig, einen ganzen Schuh von Hand zu fertigen. Heute machen das auf der ganzen Welt nur ein paar Leute. In Buenos Aires sind wir die Einzigen. Es sind ganz viele Prozesse nötig für die Herstellung eines Schuhs. Für jeden Arbeitsschritt braucht man jemanden mit besonderer Erfahrung. Einer unserer Spezialisten für die Schuhspitzen ist 78 Jahre alt. Und der andere ist 75. Solche Leute gibt es nicht mehr."

Gemeinsam mit 25 Mitarbeitern stellt José Picón in seiner Manufaktur - in den Außenbezirken der Zwölf-Millionen-Stadt - rund 80 Paar Schuhe pro Tag her. Dunkelbraune, aber vor allem schwarze. Ganz glatt und glänzend oder mit Relief, eher schmal und spitz oder rund. Alle sind handgefertigt und also Unikate. Aber nur wenige sind wirklich Maßarbeit, zugeschnitten auf einen ganz bestimmten Fuß. Picón blättert durch den Karteikasten, den er aus einer Schublade hervorgeholt hat. Auf den Zetteln ist genau verzeichnet, wie der Schuh für einen ganz bestimmten Menschen beschaffen sein muss. Ein Fuß in allen Maßen: Länge, Breite, Dicke - Spreizfuss oder Plattfuss.

"Die Karteikarten, die wir hier im Laden haben, gehören zu den neueren Kunden. Wer länger als etwa fünf Jahre nichts bei uns gekauft hat, wird aussortiert. Ich weiß nicht genau, wie viele Karten wir haben. Viele Hundert auf jeden Fall. "

Ins Archiv gewandert ist auch die prominenteste Karte: Die des legendären früheren Staatspräsidenten Juan Perón.

Hanni: "Er hatte einen schlanken Fuß.Schuhgröße 43 hatte er."
José: "Größe 43, genau wie Du... Das ist die Replik des Modells, das Perón immer getragen hat. Wir hatten seinen Leisten hier und konnten für ihn Schuhe machen auch während der Zeit, als er im Exil war. Es gibt auch berühmte Fotos, auf denen er unsere Schuhe trägt."

José Picón war noch ein kleiner Junge, als der 1974 gestorbene General ein treuer Kunde des Hauses war. Aber er erzählt natürlich besonders gerne davon, dass die Schuhmacherei seines Vaters das Vertrauen des weltberühmten Politikers genoss. Vor rund zehn Jahren hat er selbst das Geschäft übernommen; Jetzt ist er Mitte 30. So unscheinbar der Laden wirkt – die Picóns liefern seit einem Dreiviertel-Jahrhundert das passende Schuhwerk für die Elite des Landes.

José Picón: "Manche Modelle stellen wir her, um sie auf dem Markt oder in anderen Läden zu verkaufen. Andere Modelle sind aber nur für unsere eigenen Kunden. Etwa für den Staatspräsidenten und die Botschafter in Lateinamerika und ihre Familien. Und für die hohen Offiziere. Wir haben eine kleine, aber ganz exklusive Klientel. Und wenn zum Beispiel irgendein Colonel oder General ins Ausland geschickt wird, dann haben wir ja seinen Leisten."

Ob Exil - wie bei Perón - oder freiwilliger Auslandsaufenthalt: Die Picóns garantieren, dass Argentiniens Repräsentanten stets wohl-beschuht über das diplomatische Parkett schreiten. Alles "made in Argentina".

José Picón: "Das Schönste dabei ist, dass kein Schuh genau wie ein anderer ist. Handarbeit ist eben nie hundertprozentig perfekt. Das ist sehr wichtig. Das ist die Noblesse der Handarbeit."

Solch kostbare Einzelstücke wollen auch individuell verkauft werden. José Picón ist immer höchstpersönlich für seine Kunden ansprechbar.

José Picón: (Telefon klingelt) "Entschuldigen Sie bitte..." (nimmt den Hörer ab, meldet sich) "Picón"