Massenprotest

Von Jochen Thies |
Auf den ersten Blick haben der 2. Juni 1967, der Tag, an dem Benno Ohnesorg starb, und der Massenprotest in den Tagen vor Heiligendamm nur wenig miteinander gemeinsam. Vor 40 Jahren ging aus heutiger Sicht die alte Zeit, die für junge Menschen bleiernen Adenauerjahre, wirklich zu Ende.
Denn eine Stunde Null hatte es in Deutschland nicht gegeben. Staat und Gesellschaft waren noch obrigkeitsstaatlich fixiert. Und die damalige Polizei war auf die Niederschlagung von Unruhen vorbereitet, wie sie ein Maßnahmenstaat bereithält, nicht auf eine Demokratie mit selbstbewussten Bürgern. Die Wut der Studenten über den sinnlosen Tod eines Kommilitonen war verständlich groß. Sie konnten nicht ahnen, dass das Regime des Schahs, indirekter Auslöser für den Tod von Benno Ohnesorg, zwölf Jahre später untergehen würde.

Massenproteste gab es 1967 in der gesamten westlichen Welt. Aber die Radikalisierung, die in Deutschland nach dem Tod von Benno Ohnesorg einsetzte, erschrickt im Nachhinein. Nicht von ungefähr ist in der angelsächsischen Welt von "Hitlers Kindern" gesprochen worden.

Außer Frage steht, dass die 68er Deutschland in vielfacher Hinsicht verändert haben. Die kulturelle Revolution, die sie verursachten, in Bausch und Bogen zu verurteilen, geht jedoch an den Realitäten vorbei. Willy Brandts Worte aus seiner ersten Regierungserklärung sind Wirklichkeit geworden, Deutschland ist eine liberalere Demokratie als vor 40 Jahren. Ob sie stabil bleiben wird, wird nicht zuletzt vom Fortgang der Globalisierung abhängen. Wenn diese zu viele Verlierer produziert, kann es kritisch werden.

Die Polizeitaktik hat sich nach dem 2. Juni 1967 grundlegend geändert, in Berlin wie in der Bundesrepublik Der Siegeszug, den das Fernsehen damals antrat, trug auch dazu bei, den Polizeiknüppel zu diskreditieren und Öffentlichkeit bei Demonstrationen herzustellen, die beinahe jeden Ort erfassen. Totalitäre Regimes bemerken dies jedoch zu spät, und dies kann weit reichende Folgen haben. Allzu laxer Umgang mit der Sicherheit birgt jedoch auch Gefahren in sich. In Deutschland ist man, was längst in der Öffentlichkeit vergessen ist, im Juni 1983 in Krefeld bei einem Staatsbesuch einer Katastrophe nur knapp entgangen, als der damalige US-Vizepräsident Bush bei Protesten, die außer Kontrolle gerieten, in Bedrängnis kam und die amerikanischen Sicherheitsbeamten ihre Pistolen bereits gezogen und entsichert hatten.

Die Demonstranten von heute treffen auf einen flexibel reagierenden Staat, der allerdings, bevor er verbal in den letzten Tagen beidrehte, seine Folterinstrumente vorzeigte. Die Schnüffelaktionen, die Wiederinbetriebnahme eines DDR-Wachturms, aber auch die Errichtung des Zaunes im Osten von Deutschland, waren alles andere als glückliche Entscheidungen. Man hätte besser auf dem Bonner Petersberg tagen sollen als an der Ostsee. Darüber hinaus zeigen die jüngsten Ermunterungen zum Protest aus dem Munde von Kanzlerin und Innenminister an, dass man nicht mit Folgen des Protestes rechnet, anders als 1967, als sich der Staat bedroht sah und sich ein Polizist zum Exekutierenden der Staatsmacht aufschwang.

Aber es wird allmählich gefährlich, die Argumente und Beweggründe derer zu unterschätzen, die sich überall dort versammeln, wo scharf bewachte G8-Gipfel stattfinden. Denn die Globalisierung hat längst eine breite Unterschicht und schlimmer – eine Generation von sehr gut ausgebildeten, begabten jungen Verlierern produziert, die zu einer großen gesellschaftlichen Kraft heranwachsen können, wenn sie sich unter einem umspannenden Thema versammeln können. Die Klimadebatte kann zu dieser Klammer werden. Aber alle verantwortlich Denkenden und Handelnden sollten nach den Erfahrungen von diesem Samstag vor 40 Jahren wissen, dass mitunter ein Funke genügt, um eine Explosion auszulösen. Kluge Demokratien warten nicht bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie sich entlädt. Sie handeln vorausschauend. Und sie schaffen nicht ohne Not Anlässe, die über Wochen hinweg tief in das Leben von Nationen eingreifen oder außer Kontrolle geraten können. Genauso wie der Protest gegen das Schah-Regime vor 40 Jahren legitim war, genauso ist der Protest der Jungen von heute berechtigt, die sich damit nicht abfinden können, dass eine reiche westliche Welt das Verteilungsproblem, den Ausgleich mit der Dritten Welt, so unbefriedigend löst. In Heiligendamm protestieren in den nächsten Tagen nicht nur Studenten wie 1967 in Berlin, sondern – als Folge der Globalisierung – Menschen aus der ganzen Welt.