Massenmord aus Umweltschutzgründen

08.02.2008
Eine Gruppe von Umweltaktivisten will das Problem der Überbevölkerung auf rabiate Art lösen: Mit Malaria-Erregern wollen die Anzahl der Menschen in den Slums der Mega-Städte dezimieren. Agenten sind ihnen auf der Spur. Als Agententhriller getarnt, verhandelt Jean-Christophe Rufin brennende ethische und gesellschaftliche Fragen.
Jean-Christophe Rufins Roman behandelt eine Frage, die zurzeit viel diskutiert wird: Wie viele Menschen kann unser Globus ernähren und verkraften? Nur 500 Millionen, wie der französische Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau einmal gesagt hat? Oder käme die Erde locker mit den derzeit 6,65 Milliarden Menschen klar, wenn die Menschheit verantwortungsvolle und nachhaltige Politik betreiben würde?

Der Roman um diese Problematik herum ist höchst spannend und fordert seine Leser immer wieder auf, selbst Stellung zu beziehen. Ist es in Ordnung, den Papst gewähren zu lassen, wenn er Verhütungsmittel verdammt? Kann man es hinnehmen, dass genmanipulierte Pflanzen angebaut werden, um eine wachsende Weltbevölkerung satt zu bekommen? Begehen Umweltaktivisten Kavaliersdelikte, wenn sie Tiere aus Forschungsanstalten befreien? Haben die Chinesen recht mit ihrer Ein-Kind-Politik? Wo stößt Entwicklungshilfe an ihre Grenzen?

All diese Fragen müssen sich auch die Hauptakteure in Rufins Buch stellen. Jedenfalls dann, wenn sie zum Nachdenken kommen, und da sie in 100 Stunden die Welt retten müssen, bleibt selten Zeit zum Innehalten.

Die ehemaligen Geheimdienst-Agenten Paul und Kerry jagen eine verbrecherische Aktivistengruppe, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Bevölkerungszahl auf der Erde entscheidend zu dezimieren. Die Gruppe plant einen Massenmord nahezu unvorstellbaren Ausmaßes: Mithilfe manipulierter Cholera-Erreger sollen die Menschen in den Slums der bevölkerungsreichsten Städte umgebracht werden. Das Credo der Fanatiker lautet: Die Erde muss von Armut befreit werden, und das geht nur, wenn man gegen die Ärmsten vorgeht.

Die Schauplätze des Romans sind über den ganzen Erdball verstreut und lange weiß man nicht, welche Rolle mancher Wissenschaftler, Politiker und Geheimdienst-Agent spielt.

Paul und Kerry - einst ein Liebespaar - kreisen die Verdächtigen bald ein, aber es wird schwer, sie zu fassen, denn man weiß nicht, wo sie als erstes zuschlagen wollen. Als sich die Hinweise darauf verdichten, dass in den Slums von Rio de Janeiro der erste verheerende Anschlag erfolgen könnte, kommt es in der brasilianischen Großstadt zum Showdown.

Was sich liest wie ein Agenten-Thriller ist nicht erst auf den zweiten Blick ein höchst philosophisches Buch. Denn wer in den hoch entwickelten Ländern hat sich nicht schon einmal bei dem Gedanken erwischt, dass man Armut am besten dort bekämpft, wo sie am signifikantesten auftritt?

Die Ansiedlung des Romans im Bereich der - in Anführungsstrichen! - "Agentenliteratur" ist gut gewählt. Das Buch ist ein Abgesang auf gut funktionierende Geheimdienste, die in den Zeiten des Kalten Kriegs für die bessere Seite gekämpft haben. Es geht hart mit blindem Fortschrittsglauben ins Gericht, und es mahnt beherzte Maßnahmen an, ohne die Menschlichkeit auf der Strecke zu lassen. Über Leichen - das ist die Aussage zwischen den Zeilen - darf man selbstverständlich nicht gehen, wenn man nachhaltig wirtschaften will, am grünen Tisch allein aber lassen sich keine Probleme lösen. Erkenntnis ohne Handeln reicht nicht aus.

Natürlich hat Jean-Christophe Rufin den aufgeklärten, in der westlichen Kulturgeschichte verankerten Menschen auf seiner Seite, wenn er die mörderischen Pläne der radikalen (Pseudo-) Umweltorganisation als verbrecherisch brandmarkt, der Autor macht aber zugleich klar, dass eine Lösung für das eigentliche Problem in weiter Ferne scheint: Die Menschheit starrt weiter auf die ständig wachsende Bevölkerung der Erde wie das Kaninchen auf die Schlange.

Diese Aussage ist dann hochinteressant, wenn man sich vor Augen führt, dass Rufin nicht nur ein ausgezeichneter Schriftsteller ist, er wurde bereits 2001 mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet, sondern auch als Politiker wirkt. Seit dem vergangenen Jahr ist er französischer Botschafter im Senegal. Der studierte Mediziner und Politikwissenschaftler war Vizepräsident von "Ärzte ohne Grenzen", fungierte als Berater im französischen Verteidigungsministerium und beim Roten Kreuz. Außerdem hat er als Entwicklungshelfer gearbeitet und engagiert sich massiv gegen Antisemitismus und Rassismus.

Fazit: "100 Stunden" ist spannend und gehaltvoll. Einzig der deutsche Titel ist eine plumpe Wahl.

Rezensiert von Roland Krüger

Jean-Christophe Rufin: 100 Stunden
Roman. Aus dem Französischen von Brigitte Große und Claudia Steinitz
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008
558 Seiten. 19,90 Euro