Massenmord als Alltäglichkeit

26.01.2007
Der Pole Tadeusz Borowski hat das Konzentrationslager Auschwitz überlebt. Nach der Befreiung veröffentlichte er Erzählungen über den barbarischen Alltag im Lager und darüber, wie viele ehemalige Häftlinge an dem erlebten Zivilisationsbruch zugrunde gegangen sind. Sein Band "Bei uns in Auschwitz" liegt nun in einer neuen Übersetzung vor.
Tadeusz Borowski muss man immer wieder lesen. Unstrittig ragt sein Erzählband über Auschwitz als provozierender Solitär aus dem Kanon der Holocaust-Literatur hervor. Wie Elie Wiesel, Imre Kertész oder Ruth Klüger findet Borowski eine Sprache für Unsagbares. In deutscher Übersetzung erschienen Erzählungen des polnischen Autors erstmalig 1963 unter dem Titel "Die steinerne Welt". In späteren Auflagen wurde er geändert in "Bei uns in Auschwitz". Unter diesem Titel sind Borowskis Erzählungen und Kurzgeschichten nun in neuer Übersetzung wiederaufgelegt.

Der Autor, der Auschwitz aus eigener Erfahrung kannte, beschreibt mit Mitteln des fiktionalen Realismus den Massenmord als Alltäglichkeit. Sein Ich-Erzähler ist Häftling eines Arbeits- oder Vernichtungslagers. Zumeist privilegiert als Vorarbeiter, Dachdecker oder - wie in der Erzählung "Menschen, die gingen" - Sanitäter. Mit den "halbwegs auskurierten Kranken" spielt er in Auschwitz Fußball, während in Sichtweite Frauen und Männer aus Eisenbahnwaggons quellen. Der Häftling-Sanitäter konzentriert sich als Torwart auf das Spiel. Nichts anderes ist von Interesse. "Der Ball wanderte von Fuß zu Fuß und kehrte in einem Bogen vors Tor zurück. Ich wehrte ihn ab, aber er ging ins Aus - Ecke. Wieder ging ich ihn holen. Als ich ihn aufhob erstarrte ich: die Rampe war leer... Ich ging mit dem Ball zurück und gab ihn zur Ecke. Zwischen zwei Eckbällen hatte man hinter meinem Rücken dreitausend Menschen vergast."

Neuankömmlinge im Lager sind für den Erzähler "Zivilisten" - wie letztlich auch die sprachlosen Leser. "Diese Zivilisten sind zum Lachen. Sie reagieren auf das Lager wie ein Wildschwein auf den Anblick eines Gewehrs. Sie begreifen nicht den Mechanismus unseres Lebens und wittern hinter dem allem etwas Unheimliches, Rätselhaftes, etwas, das die Kräfte des Menschen übersteigt ... Das Unheimliche und Rätselhafte ist uns heute vertraut. Wir haben täglich das Krematorium, Tausende Fälle von Phlegmonen und Tuberkolose, wir kennen die Unfreiheit und die Macht, denn wir gehen, wenn ich so sagen darf, mit der Bestie Arm in Arm..."

Der Skandal von Borowskis Erzählungen liegt in seinem Stil. Im Ton: Auschwitz wird nicht wie ein anderer Planet beschrieben, sondern unaufgeregt, wie gewöhnlicher Alltag. Auch identifikatorisches Lesen verwehrt Borowski. "Mit der Bestie Arm in Arm" - es gibt in seinen Erzählungen keine Abgrenzung zwischen Tätern und Opfern. Keine Helden, keine Tragik, kein Mitleid. Im Nachkriegspolen warf man dem Autor deshalb Zynismus, Nihilismus, moralische Indifferenz vor. Man erwartete Märtyrerliteratur. Doch gerade mit seiner nüchternen, beiläufigen Art der Beschreibung diagnostiziert Borowski scharfsichtig die Entindividualisierung und den Zusammenbruch herkömmlicher Moral als Wesen eines mörderischen Systems.

Wie Primo Levi und Jean Améry überlebte Tadeusz Borowski das Todeslager, nicht aber das Überleben. Trotz künstlerischer Kontrolle über seine Erfahrungen brachte sich der Hoffnungsträger der polnischen Nachkriegsliteratur 1951 um. Keine dreißig Jahre alt öffnete er in seiner Warschauer Wohnung den Gashahn.

Zurück ließ Borowski, so sein Schriftstellerkollege Jerzy Andrzejewski, "ein paar Erzählungen, die die Chance haben, so lange zu leben, wie die polnische Literatur existiert, dazu ein ganzer Friedhof zerschlagener Illusionen und Hoffnungen."

Denn Borowski erzählt nicht allein von der Lagerwelt. Sondern auch wie die ehemaligen Häftlinge die Welt nach Kriegsende erleben. Sie sehen keinen Unterschied, keinen Neuanfang. Die Welt ist ihnen jener Friedhof, von dem Andrzejewski spricht. Die "Befreiung" einer "vom Holocaust gebrandmarkten Existenz" (Kertész) erschien Borowski absurd wie die Regeln einer Zivilisation, die die Todeslager zugelassen hatte. Nach Auschwitz war ihm die ganze Welt, von der Antike bis zur Gegenwart, ein KZ.

"Du erinnerst Dich, wie ich Platon geschätzt habe. Heute weiß ich, dass er gelogen hat. Denn in den irdischen Dingen spiegelt sich kein Ideal, in ihnen steckt vielmehr schwere, blutige Arbeit von Menschen."

Borowskis Figuren haben das Lager verinnerlicht. Es ist Maßstab ihres Handelns auch nach der Befreiung. Den erlittenen "Zivilisationsbruch" können sie nicht mehr kitten. "Gleichmütig trete ich in die engen, aber gemütlichen Zimmer wichtiger Personen, und manchmal bitte ich allzu höflich um allzu nichtige Dinge, die mir zwar zustehen, die aber - letztlich weiß ich es - nicht verhindern können, dass diese Welt anschwillt wie ein überreifer Granatapfel und platzt, um statt Kernen nur trockene, raschelnde Asche in die glasige Leere auszuschütten."

Rezensiert von Carsten Hueck

Tadeusz Borowski: Bei uns in Auschwitz
Übersetzt von Friedrich Griese
Schöffling Verlag, Frankfurt a.M., 2006
421 Seiten, 22,90 Euro