Masse und Individuum in düsterem Ambiente

Von Eva-Maria Götz |
Berlin hat eine neue Kulturhalle der Superlative, die im Kesselhaus des Berghains mit einer Produktion des Staatsballetts Berlin eröffnet wurde. Drei Choreografen reflektierten das Thema „Masse“, Berghain-DJs lieferten die Musik und der Maler Norbert Bisky das Bühnenbild.
Das Kesselhaus im ehemaligen Heizkraftwerk der Karl-Marx-Allee, das jetzt den weltberühmten Techno-Club Berghain beherbergt, wurde mit einer Produktion des Staatsballetts eröffnet. Drei Choreografen reflektierten das Thema „Masse“„. Die Musik dazu komponierten die Berghain-DJs. Und als Bühnenbilder trat erstmals der Maler Norbert Bisky in Erscheinung.

Die Wände sind verwittert, verrußt, der Putz und die ehemals weißen Kacheln zum großen Teil abgeplatzt, darunter werden Backsteine sichtbar. Kabelknäule hängen sinnlos geworden in den Ecken. Verwinkelte Rohre ziehen sich vom Boden bis zur Decke, an der riesige Kohlentrichter aus Beton hängen und daran erinnern, dass hier einmal gearbeitet, dass hier Energie erzeugt wurde.

Norbert Bisky musste nicht viel erfinden, um den Raum interessant zu machen. Er beschränkte sich auf das Wesentliche. Schwarzer Hartgummi quillt aus einem Schacht in der Wand wie ein erstarrter Wasserfall, erweitert sich dann zum dunklen Tanzboden und „tropft“ auf der anderen Seite von der Bühne herab bis in die erste Zuschauerreihe. Am rechten Bühnenrand steht ein ausgebranntes Buswrack. Ein Unfall, ein Attentat? Das wird nicht weiter thematisiert. Auf jeden Fall ein düsterer Ort.

Vom Molekül zum Homo sapiens
Auf den Xenia Wiest in der ersten Choreografie des Abends nicht weiter eingeht. Ihr Beitrag zum Thema „Masse“ ist die Entwicklung des Menschen von einem Molekül, einem Zellhaufen, hin zum Homo sapiens. In ihrer sich aus dem bekannten Bewegungsrepertoire des modernen Tanzes sich bedienenden Erzählweise zitiert sie allgemeinverständliche Bilder wie das der Evolutionsfolge vom Affen zum aufrecht gehenden Individuum oder Leonardo da Vincis „Vitruvianischen Menschen“. Am Ende stehen die Tänzer in heutigen Klamotten und in vielerlei Sprachen vor sich hinplappernd an der Bühnenrampe- die hippe New Generation als vorläufiger Höhepunkt der Evolutionsgeschichte.

Auch die zweite Choreografin des Abends, die Staatsballett-Solotänzerin Nadja Saidakova, interessiert sich für naturwissenschaftliche Phänomene. Bei ihr geht es um physikalische Teilchen, die als Masse zusammenwabern, sich trennen und wieder zueinanderfinden. Ihre Bilder erinnert oft mehr an Bodenturnen als an modernes Tanztheater, auf den spektakulären Raum geht Nadja Saidokova noch weniger ein als Xenia Wiest.

Maskenhafte Gesellschaft und Individuum
Das gelingt am meisten im dritten Teil des Abends, den Tim Plegge verantwortet. Auch er kann zwar nicht ausbrechen aus der konventionellen Guckkastensituation – hinten die Zuschauer auf ihrer Tribüne, vorne das Bühnengeschehen – , die in ihrer Starrheit die Möglichkeiten eines solchen Raumes völlig verschenkt. Aber immerhin setzt er Lichteffekte, die den Raum aufreißen und öffnen, und er regiert in der Geschichte, die er erzählt, auf die Trostlosigkeit des Ambientes. Maskenhafte Gesellschaft und Individuum, Ausgesperrtsein oder Ausbrechen aus einer Gruppe, Versuche, über den Dialog, über Berührung, auch über gewaltsame Aktionen sich seines Selbst zu vergewissern und Kontakt herzustellen zu einem Gegenüber – das ist Tim Plegges Assoziation zum Thema „Masse“. Dabei entwickelt er mit seinen überragenden Tänzern eine Choreografie der großen, eindrücklichen Bilder und der kleinen wie zufällig wirkenden Momente, voller Überraschungen, Tempo und Kraft. Die Musik kommt in diesem Fall von Star-DJ Henrik Schwarz und ist ebenfalls der originellste, künstlerisch weitest gehende kompositorische Beitrag des Abends.

Insgesamt ein Abend auf tänzerisch unbestritten hohem Niveau, der so allerdings auch in jedem Stadttheater hätte stattfinden können – und den neuen Kulturdom, den Berlin sich wieder einmal aufgetan hat, noch nicht nutzt, den großen Namen zum Trotz.

Masse
Eine Koproduktion des Staatsballetts Berlin und Berghain Berlin
Choreografie: Nadja Saidakova, Xenia Wiest, Tim Plegge
Musik: Henrik Schwarz, Marcel Dettmann & Frank Wiedemann und DIN (Efdemin & Marcel Fengler)
Halle am Berghain, Berlin
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